Warum ein einziger Protestant zwei Kapellen benötigt
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Bericht über einen Besuch der Russischen Evangelischen Allianz in Fernost
Reportage
M o s k a u – Bei einem Besuch der Russischen Evangelischen Allianz (REA) im Russischen Fernost Mitte Juni erzählte ein Pfingstpastor aus Chabarowsk einen traurigen Witz, der vermeintlich den Zustand des russischen Protestantismus beschreibt: Ein Gläubiger, der auf einer unbewohnten Insel Schiffbruch erlitten hatte, beschloß, sich selber zwei Kirchen zu bauen. Nach seiner Rettung wurde er gefragt, weshalb eine einzige Person zwei Kapellen benötige. Seine Antwort lautete: „Ich brauche immer eine Kirche, die ich regelmäßig besuche, neben einer zweiten, die ich mir von innen nie ansehe.“
Ein baptistischer Pastor in derselben Stadt berichtete, daß seine Denomination trotz ihrer bescheidenen Größe als relativ bedeutend in der Gesellschaft dastehe. Die
Protestantan dort fallen in jedem Falle stärker auf als im europäischen Rußland. Das hängt z.T. mit der historischen Schwäche der Orthodoxie in diesen Breiten zusammen. „Aber wir wären
entschieden stärker, wenn wir uns weniger zankten,“ fügte er hinzu. Kürzlich trennte sich die größte Baptistengemeinde Wladiwostoks 100 zu 40 – 100 Mitglieder zogen in ein anderes Gebäude um. Ein
Streitthema betraf die Frage der ewigen Erlösung – die Auseinandersetzung zwischen Arminianern und Calvinisten hat sich inzwischen auf die gesamte Breite der ehemaligen Sowjetunion ausgeweitet.
Diese beiden Städte verfügen über Versammlungen von Pastoren, die sich als „Allianz“ bezeichnen. (In Blagoweschtschensk dicht an der chinesischen Grenze gibt es das gegenwärtig nicht.) Doch Witali Wlasenko (Moskau), dem neuen „Internationalen Botschafter“ der REA, fiel auf, daß sich diese Ortsallianzen in der Regel auf Pfingstpastoren beschränken. „Die Baptisten müssen noch an Bord geholt werden,“ resümierte er. Und eigentlich hätten die Baptisten keinen Grund, eine defensive Stellung einzunehmen. Die Besucherzahl beim Gottesdienst der umstrittenen, von Michail Darbinyan geführten „Neue Generation“-Gemeinde in Blagoweschtschensk am 18. Juni betrug rund 250. Doch die größte Baptistengemeinde wies zur gleichen Zeit 150 Besucher auf, und sie ist nur eine von drei Baptistengemeinden in der Stadt.
Chabarowsk hat acht Baptistengemeinden – und jede hat sogar eine eigene Kapelle. (Ein Zustand, von dem man in Moskau nur träumen könnte.) Dennoch leidet der Fernost an einer Abwanderung von Fachkräften (brain drain). Die Pastoren von drei dieser Chabarowsker Gemeinden sind nach Nordamerika ausgewandert. Die Gläubigen in Chabarowsk berichteten, daß jene Pastoren und Laien, die den weiten Weg bis Amerika oder Deutschland nicht schaffen, nicht selten im warmen Klima Krasnodars unweit der Krim landen.
Das Zwischenkirchliche von unten
Nicht unerwartet ist die Feststellung, daß das Zwischenkirchliche auf den untersten Ebenen der Gesellschaft am besten funktioniert. Alexander Kaiser, Leiter eines 2003 gegründeten Reha-Zentrums für Suchtgefährdete und Obdachlose in Belagorsk, berichtete von hervorragenden Beziehungen mit kommunalen und orthodoxen Stellen. Neben Drogen- und Alkoholkranken haben auch ledige Schwangere, die 18-jährigen Abgänger von Waisenhäusern und verlassene, älteren Frauen die 150 Betten des bescheidenen Heims in Anspruch genommen. Der Direktor, selbst ein genesener Alkoholiker, räumte ein, daß es nur einem von zehn Bewohnern gelingt, den Sprung in ein neues Leben zu schaffen. „Doch gerade wegen ihnen sind unsere Bemühungen nicht umsonst.“
Anfangs wurde dieses pfingstlerische “Prijut Nadezhdy” (Heim der Hoffnung) von der Polizei und anderen staatlichen Stellen belästigt. Doch Gewissenhaftigkeit und stete Bemühungen im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte haben Vertrauensvorschüsse geschaffen. Die Polizei auf dem örtlichen Bahnhof weist ihnen regelmäßig gestrandete Passagiere zu, die Polizei aus Tynda (696 km nördlich) schickte ihnen einen Alkoholkranken, der eine ernsthafte Erfrierung erlitten hatte. Nicht zuletzt haben Kontakte mit einem orthodoxen Kloster und orthodoxen Geistlichen zu gegenseitigen Hilfeleistungen geführt. Die Kapellenmöbel sind das Geschenk eines orthodoxen Priesters. Das Heim erhält Gebrauchtkleidung vom Kloster; es revanchiert sich u.a. mit Gemüse aus dem eigenen Garten. Als Ausdruck der Solidarität mit orthodoxen Freunden stürzte sich Kaiser einst ins kalte Wasser bei minus 35 Grad.
Der Direktor zeigte uns stolz ein Schreiben vom Büro des Russischen Präsidenten im März 2014, das eine Spende von 350.000 Rubel (damals mehr als 10.000 €) bestätigte. Staatliche Zuwendungen im Jahre 2016 betrugen nicht weniger als 1,5 Millionen Rubel – rund 23.000 €. Doch ernstzunehmende Beziehungen mit baptistischen Kreisen in diesem Gebiet gibt es nicht. „Eigentlich bin ich gegen die Existenz von Denominationen,“ fügte der Direktor hinzu.
Künftige Fragen – ein Kommentar
Witali Wlsenko sieht es als seine Aufgabe an, das Gespräch zwischen baptistischen und pfingstlerischen Kreisen zu fördern. Pfingstkreise scheinen dafür offen zu sein: Die Predigt Juri Sipkos in der Blagoweschtschensker Gemeinde von Darbinjan am 14. Oktober 2011 – “Vor mir sehe ich nur Engel” – hat dort einen legendären Status erreicht. Gemeindeglieder weisen gerne darauf hin, daß noch vor Landung des Flugzeuges von Sipko in Moskau Proteste aus Emigre-Kreisen in Sacramento bereits eingetroffen waren. Sipko war Präsident der Russischen Union von Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB) bis April 2010. (Siehe unseren Bericht vom 14. Dezember 2011.)
Es wird wohl nur zu Fortschritten kommen, wenn sich sowohl Pfingstler als auch Baptisten aus ihren “Bequemlichkeitszonen” hervortreten und bewußte Schritte
aufeinander zugehen. Baptisten werden weniger empfindlich bezüglich der Theologie und Anbetungsformen anderer Protestanten sein müssen; Pfingstler ihrerseits werden die Lautstärke zurückfahren
und Gottesdienstformen annehmen müssen, die eher in die russische Kultur hineinpassen. Das kommt einem utopisch vor, wenn man sich eine Gruppe wie die in Riga beheimatete Neue Generation ansieht.
Sie würde das Stück ihrer Identität preisgeben müssen, das besagt, daß sie die schrillsten und radikalsten Anhänger Jesu seien. Sie würde darauf verzichten müssen, Anstoß dort zu erregen, wo
keiner erforderlich ist. Natürlich fahren andere pfingstlerisch-charismatische Kreise einen gemäßigteren Kurs; ihre geistliche Zusammenarbeit mit baptistischen Kreisen wäre vielerorts gegeben.
Im gegenwärtigen Kontext bedeutet jedoch jegliches Zugehen russischer Protestanten auf radikal-charismatische Kreise gleichzeitig ein Weggehen von der Orthodoxie. Eine einvernehmliche Zusammenarbeit mit beiden wäre jedoch erforderlich. Gerade dieses Dilemma muß geknackt werden, falls Fortschritte erzielt werden sollen. Dabei darf man auch nicht übermäßig optimistisch sein: Die Faszination mit geistlichen Erscheinungen nordamerikanischen Ursprungs scheint ungebrochen. In Chabarowsk erfuhr ich erstmals von einer in Redding/Kalifornien ansässigen charismatischen Gemeinschaft namens „Bethel Church“. Ihre Kritiker beschreiben viele der Wunder, die in dieser Gemeinde stattfinden, als gestellt.
Weitere mögliche künftige Aufgaben der REA erscheinen weniger kompliziert. Sie umfassen die Schaffung einer Datenbank christlicher Geschäftsleute in Rußland und benachbarter Staaten (einschließlich China). Wo gibt es christliche Banken, die bereit sind, jungen russischen Geschäftsleuten Kredite zu gewähren? Ein weiterer Bedarf besteht darin, den Protestanten in Fernost die juristischen Folgen der Jarowaja-Gesetzgebung von 2016 zu erläutern.
Auf jeden Fall wird es der REA in den kommenden Jahren nicht an Aufgaben mangeln.
Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 7. Juli 2017
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