· 

Lutherisches Leben seit der Auswanderung

Nicht so schlimm, wie man sich das vorstellt
------------------------------------------------------------------
Lutherisches Leben nach einem Auswandern der „Klebe“

 

Reportage

 

W i t j a s / F e r n o s t -- Die restriktiven Jarowaja-Gesetze von 2016 sind nicht das Problem, versichert Wladimir Winogradow, der 36-jährige Propst der „Evangelisch-Lutherischen Kirche Ural, Sibirien und Ferner Osten (ELKUSFO) mit Sitz in Omsk. Zuständig für den zweiten, sibirischen Teil der Kirche, sieht er vielmehr ein Hauptproblem darin, daß die bereits sehr geschrumpften Gemeinden von Außenstehenden weiter aufgespalten werden. Vor allem nordamerikanische Kirchen können es nicht lassen, auch innerhalb von fernen, sehr kleinen christlichen Gemeinschaften das eigene Fähnlein aufzupflanzen. Es gibt weitere, noch kleinere lutherische Gemeinschaften, doch in der von Wsewolod Lytkin gegründeten „Sibirische Evangelisch-Lutherischen Kirche“ sieht Propst Winogradow einen führenden Gegenspieler. Im Jahre 2003 hatte sich diese in Akademgorodok bei Nowosibirsk beheimatete Kirche gegenüber ihrem Gründer, der estnischen lutherischen Kirche, verselbständigt. Heute ist sie mit der konservativen, in St. Louis beheimateten „Lutheran Church – Missouri Synode“ und ihren fast zwei Millionen Mitgliedern liiert.

 

„Wir sehen (die Lytkinsche Kirche) als Schismatiker an,“ versichert der Propst, „denn viele ihrer Pastoren haben früher bei uns gearbeitet. Diese nahmen bei ihrem Abschied auch manche unserer besten Gemeinden mit sich. Ich hätte es verstanden, wenn sie des Geldes wegen gegangen wären.“ Doch ihn schmerzt es besonders, daß man stattdessen „heute im sozialen Netz Schmutz in unsere Richtung wirft. Sogar Geistliche machen Vorwürfe, die der Wahrheit absolut nicht entsprechen.“

 

Mit von der Partie ist die konservative, in St. Petersburg beheimatete „Evangelisch-Lutherische Kirche des Ingermanlandes in Rußland“ (oder „Ingria“). Dazu meint der Propst: Der Ingria-Bischof „Arri Kugappi und Lytkin führen gemeinsam Veranstaltungen durch, und das verstehen wir nicht. Die Kirche, die uns am nächsten war, hat begonnen, sich mit Schismatikern zu verbünden.“ Zu einem klärenden Gespräch ist es noch nicht gekommen. Im Dezember 2019 soll die überwiegend finnischstämmige Ingria-Kirche einen neuen Bischof bekommen. Danach ist eventuell mit Veränderungen zu rechnen.

 

Obwohl er damals noch ein Kind war, kommt bei Winogradow etwas Wehmut für die zwischenmenschlichen Beziehungen in der späten Sowjet-Ära auf. Vor 30 Jahren „Wohnte der Missionar von Ingria bei uns in der (Omsker) Kirche; seine Gemeinde versammelte sich bei uns. Es war ein völlig brüderliches Verhältnis. Früher waren wir alle eine Kirche, doch plötzlich bezeichneten sich einige aus unserer Gemeinschaft als ‚finnisch’.“

 

Zugesetzt wird der ELKUSFO auch von adventistischen Kreisen. In einer Reihe von Fällen sind Gemeindeleiter samt Gemeinde in diese Kirche gewechselt. Das geschah in der Regel ohne Absprache mit der betroffenen lutherschen Kirchenleitung.

 

In der Jarowaja-Gesetzgebung sieht der Propst vor allem Bürokratie – er versteht sie als eine „Vervollkommung“ der ursprünglichen Gesetzgebung von 1998. „Alle Pastoren und Gemeinden müssen mit Scheinen ausgestattet werden. Es gibt nun mehr Papier denn je, wenn es darum geht, Kinder in ein Ferienlager zu schicken. Unsere Buchhaltung muß immer transparent sein.“ Nach seinem Eindruck erleben die Baptisten u.a. mehr „Vorfälle“ als die Lutheraner. „Es gibt auch den menschlichen Faktor. Schon das Wort ‚Baptist’ fällt vielen Staatsvertretern negativ auf.“

 

Geschichtliches
Spannungen mit der Staatsmacht sind natürlich keine Neuigkeit für die Christen Rußlands. In Sibirien während der Sowjet-Ära waren lutherische – und auch sehr viele baptistische – Gemeinden nicht registriert. Von der Warte Omsk aus befand sich die nächstliegende, registrierte lutherische Gemeinde in der kasachischen Hauptstadt Zelinograd (heute Nur-Sultan). Die deutschstämmigen Lutheraner, etwa im Gegensatz zu den Finnen, versammelten sich in urpietistischen „Brüdergemeinden“.

 

Doch heute sieht die Lage anders aus. Seit Mitte der siebziger Jahre haben bis zu 90% der deutschstämmigen Bürger Rußlands bzw. der Sowjetunion das Land verlassen. Dieser Exodus von mehreren Millionen Menschen hatte massive Folgen für das Leben der lutherischen Gemeinden. Ganze Dörfer und christliche Gemeinden wurden verwaist. Nach Winogradow hält dieser Auszug bis heute an.

 

Nach „Wikipedia“ hat die übergreifende, in Moskau beheimatete „Evangelisch-Lutherische Kirche Rußlands“ nur noch 24.050 Mitglieder in 400 Gemeinden – man sprach einst von Hunderttausenden. Rund 118 dieser Gemeinden mit 5.000 Mitgliedern gehören zur ELKUSFO. Die Kirche von Ingria hat 75 Gemeinden und 20.000 Mitglieder; die Sibirische Ev.-Lutherische Kirche Lytkins soll 2015 2.100 getaufte Mitglieder gehabt haben.

 

Die Zukunft
Bei vielen Gemeinden und Kirchen kann Ethnizität ein Klebstoff sein. Wegen verwandtschaftlicher und kultureller Nähe hielten Gemeinden über viele Generationen zusammen unabhängig von der Qualität der Gottesdienste und des Aussehens des Gemeindehauses. Doch im Falle des russischen Luthertums ist die Klebe inzwischen ausgewandert. Darum sieht Propst Winogradow die deutsche Herkunft heute eher als Belastung und Bremse an. „Da wollen Leute nicht zu uns kommen, weil sie sich nicht für Deutsche halten. Die Omis können Deutsch, doch schon deren Kinder, die Eltern der heutigen Jugend, sprechen kein Deutsch. Deshalb geht der Nachwuchs lieber zu den Baptisten oder Pfingstlern. Deutschsprachige Gemeinden haben keine Zukunft – sie werden in fünf bis sieben Jahren ausgestorben sein.“

 

Dieser Trend wird auch durch die zunehmende Urbanisierung bedingt. Aus den Weiten Sibiriens ziehen Gemeindeglieder verstärkt auch in entfernte Großstädte wie Moskau, St. Petersburg und Krasnodar um. Die Zukunft wird eben russischsprachig und städtisch sein.  

 

Es gibt auch Hoffnungsschimmer für den Propst. Die Gemeinde Krasnojarsk z.B. ist jung und lebendig. „Der (leider erkrankte) Pastor Gleb Piwowarow und sein Team haben keine Angst vor dem Neuen. Sie haben Glieder ohne christliche Wurzeln; sie experimentieren und sind offen für einen neuen Stil. Es gibt viele Brüdergemeinden in der Umgebung und sie beeinflussen sich gegenseitig.“

 

Kirgisistan hat nur noch 15 lutherische Gemeinden mit rund 1.000 Gliedern, doch beschreibt der Propst die dortigen Gemeinden als lebendig und aktiv: „Sie haben eine Reihe jüngerer Pastoren.“ Bei einem Treffen mit den Jugendkoordinatoren aus diesem Bergland war er von deren Haltung beeindruckt: „Viele von ihnen waren gute, aufgeweckte Leute.“

 

Mit der Kappung von Geldern aus der Hannoverschen Landeskirche stehen für die Kirchenzentrale in Omsk 2020 einschneidende Veränderungen ins Haus. „Die Lage ist aber nicht so schlimm, wie man sich das vorstellt“, versichert der Propst. „Es geht um Optimierung, Transformierung und Umbau.“ Schöpfergeist ist gefragt; manche Räumlichkeiten werden fremd vermietet werden. „Unsere Lage ist stabil“, meint Winogradow. Diese Kirche macht weiter, auch falls die Zukunft noch bescheidener ausfallen wird.

 

Zum Persönlichen
Wladimir Winogradow, geboren 1983 in Omsk, hat einen deutschstämmigen Vater und eine russische Mutter. „Vor meiner Taufe stritten sich die beiden Omas über mich“, erzählt er heute. „Doch die deutsche Oma obsiegte und ich wurde lutherisch getauft.“ Als Sportlehrer ausgebildet, entschied sich der junge Wladimir dennoch für ein Studium im Seminar Nowosaratowka, das er 2012 abschloß. Seit 2016 dient er als Propst.

 

Im Jahre 2006 heiratete er die Reha-Schwester Olga, die sich heute ehrenamtlich intensiv mit der kirchlichen Jugendarbeit befaßt. Das Paar hat einen Sohn.

 

Dr. phil. William Yoder
Berlin, den 3. Dezember 2019
Webseite „wyoder.de“

 

Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 19-09, 1.045 Wörter.