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Russische Baptisten begeben sich an den Rand

Das Leben am Rande des baptistischen Schirms
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Eine einstige Ausnahme wird heute zum Regelfall

 

M o s c o w – Seit der Regierungszeit Michail Gorbatschows findet ein Exodus aus der Baptistenunion Rußlands (RUECB) statt. Die Mitgliedschaft ist von mehr als einer Million auf etwa 70.000 zusammengeschrumpft – das ist zum Teil der Bildung von Nationalunionen nach dem Zerfall der Sowjetunion verschuldet. Dies ging aber auch mit einem Umzug an den Rand der Union einher, der einen offiziellen Austritt unterließ.

 

Ein erster Umzug fand schon sehr bald nach 1990 mit dem Eintreffen einer konservativ-calvinistischen Bewegung unter Leitung der in Illinois beheimateten „Slavic Gospel Association“ und des Kaliforniers John MacArthur statt. Liberalere, konservative Bewegungen folgten. Zu ihnen zählten Gruppen wie „Kowtscheg“ (Arche), die mit der 1964 vom französisch-kanadischen Katholiken Jean Vanier gegründeten Bewegung nicht verwechselt werden darf. Eine weitere Gruppe am Rande nennt sich “Dom Molitwi dla Wsech Narodow” (Haus des Gebets für alle Völker), die Gemeinden sowohl innerhalb wie außerhalb des RUECB-Schirms vertritt. Auch unter der Abkürzung „IHOP“ bekannt, entstand sie 1999 in der Stadt Kansas City. (Mit der US-amerikanischen Pfannkuchenkette gleicher Abkürzung nicht zu verwechseln.) Die in Moskau beheimatete „WSECh“ („All-Russische Gemeinschaft der Evangeliumschristen“) wurde 2008 vor allem durch die Baptisten Alexander Semtschenko und Leonid Kartawenko aus der Taufe gehoben. Selbst auch Schirm, befinden sich manche ihrer Gemeinden weiterhin unter dem Schirm der Baptistenunion. Witali Wlasenko und seine Moskauer Gemeinde befinden sich ebenfalls am Rande des RUECB-Schirms.

 

Eigenständig-verwaltete theologische Hochschulen sind auffällig zahlreich am Rande der Baptistentunion vorhanden. Zwei der bekannteren sind die „Christliche Universität Sankt Petersburg“ und das große „Zentrum für biblische Schulung Samara“ von John MacArthur.

 

Zu den jüngsten Gemeinden am Rande zählt die “Dom Otsa” (Haus des Vaters - TFH). Sie besteht seit Januar 2018 in der Rauschskaja Nabereschnaja Straße 4/5 im Zentrum Moskaus. In seinem Leitungskreis befinden sich überdurchschnittlich viele Menschen mit dem Nachnamen Sipko. Zu seinen Hauptgründern zählt Sergei Sipko, Leitender Vizepräsident der RUECB von 2014 bis 2018. Sein Vater, Juri Sipko, Präsident der Baptistenunion bis 2010, ist ein häufiger Gast und Prediger in dieser Neugründung. Sowohl Sergei Sipko wie sein Vorgänger als Leitender Vizepräsident, Ewgeni Bachmutski, sind in baptistischen Randbewegungen führend tätig. Doch die beiden sind eigentlich an entgegengesetzten Rändern der Baptistenunion aktiv, denn Bachmutski ist der führende, russische Repräsentant der Bewegung MacArthur.

 

Auf seinem Heimatterrain im Bezirk Orange County/Kalifornien hat das TFH 7.500 Mitglieder in fünf Gemeinden. Die Bewegung wurde vor 30 Jahren durch Dave und Donna Patterson gegründet und beschreibt sich als eine „mehrsprachige, multikulturelle und multirassische Kirche“. Die Moskauer Niederlassung versichert sogar in ihrem Gründungscredo, sie sei „eine zeitgenössische Gemeinde, die einen (herkömmlichen) Inhalt mit Beweglichkeit in den Formen verkörpert“. Moderne Formen, die Gastfreundlichkeit mit einer Offenheit für Außenstehende kombinieren, senken zweifellos die Hemmschwelle für Suchende. Das ist auch ein Hauptanliegen jüngerer, missionarisch-ausgerichteter Baptisten. Diese Bewegungen am Rande – mit der Ausnahme von MacArthur – sind in der Regel, lauter, weniger männlich, internationaler und multirassischer als die durchschnittliche RUECB-Gemeinde. Versammlungen von RUECB-Pastoren sind weiterhin ausschließlich männlich mit den meisten Anwesenden jenseits von 50 Jahren. Doch bleibt der russische Protestantismus zumeist jünger, vielfältiger und weniger exklusiv als seine Führung.

 

Die Heimatgemeinde des TFH befindet sich in Vacaville/Kalifornien nur 56 km westlich der russisch-baptistischen Hochburg von Sacramento. Sehr wahrscheinlich hat die Verbindung zwischen den beiden mit dieser geographischen Nähe zu tun. Das TFH verfügt über weitere Gemeinden in Irkutsk und Omsk/Sibirien. Der Raum Omsk ist eben auch die Heimat der Großfamilie Sipko.

 

Verwirrend ist die Tatsache, daß Moskau über eine zweite Gemeinde mit dem Namen „Haus des Vaters“ verfügt. Diese Pfingstgruppe wird von Michail Dubrowski angeführt und trifft sich im Seminar der pfingstlerischen ROSChWE in der Poretschnaja-Straße im Süden Moskaus.

 

Mein Kommentar
Die Baptistenunion schätzt die Verdienste des Randes beim Versuch, die Mitgliederzahlen zu halten. Doch dabei entstehen vollig außerhalb der Reichweite der Union zwischenkirchliche Beziehungen und Machtbasen mit getrennter Finanzierung. Eine versteckte Emigration, eine Verwesung von innen, bahnt sich dabei an. Mit einem gestreckten Tod ist zu rechnen, wenn sich die RUECB noch dünkt, mehr als ein Verwaltungsschirm zu sein. Diese neuen halbbaptistischen Gesichter werden ihre Order nicht aus der Moskauer Baptistenzentrale entgegennehmen. Falls die Zentrale dennoch der Versuchung erliegt, Befehle zu erteilen, sind sich deren Zielgruppen bewußt, daß der Weg zum Ausgang niemals weit ist.

 

Wenige bekennen es lauthals, aber das Erscheinen des TFH ist ein Indiz für die wachsende Entfremdung zwischen der Großfamilie Sipko and der gegenwärtigen RUECB-Führung. Im Jahre 2018 war diese Entfremdung in den sozialen Medien offenkundig. In der Ära seit 1990 haben sich eben in den einst sowjetischen Kirchen Zentrifugalkräfte gebildet, die auf den Rand zustreben. Man soll davon ausgehen, daß sich auch in Rußland dieser Welttrend fortsetzt.

 

Dr. phil. William Yoder
Berlin, den 6. Dezember 2019
Webseite „wyoder.de“

 

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