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Nachforschungen zum Buch "Vergib mir Natascha"

Darf der Glaube faktenfrei sein?

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Caroline Walker Pallis ging der Geschichte Sergei Kourdakows nach

 

L a d u s c h k i n - - Ein US-amerikanischer Freund, der schon lange in Rußland lebt, und ich haben uns seit Jahrzehnten die Frage gestellt, welcher Prozentsatz des Buches „Vergib mir Natascha“ auf Tatsachen beruht. Es wurde erstmals 1973 von der „Underground Evangelism“ („Christliche Ostmisson“ in Deutschland) verlegt; der Titel in Nordamerika lautete „The Persecutor”. Wir beide sannen sogar darüber nach, eines Tages Sibirien und Fernost zu bereisen beim Versuch, Orte und Menschen ausfindig zu machen, die im Buch erwähnt werden. Meine Aufmerksamkeit wurde erstmals erregt durch einen kritischen Beitrag Edward Plowmans (1931-2018) in der renommierten Zeitschrift “Christianity Today” vom 13. April 1973.

 

Erst vor wenigen Tagen kam ich dahinter, daß das bereits 2004 geschehen war. Es drehte sich um eine 53-minütige Dokumentation der Texanerin Caroline Walker (seit 2009 Caroline Walker Pallis). Regisseur war der damals in Rußland lebende polnische Jesuit Damian Wojciechowski; die Dokumentation hieß: „Vergib mir Sergei“. Sie finden den Film in englischer Sprache unter der Adresse: “https://www.youtube.com/watch?v=EkEqC0jHdJ8”.

 

Sergei Nikolajewitsch Kourdakow (auch Kurdakow bzw. “Курдаков” auf Russisch) war ein Matrose aus Sibirien, der sich früh am 4. September 1971 von einem Schiff der sowjetischen Marine absetzte und die etwa fünf km zu einer Insel Britisch Kolumbiens schwimmend bewältigte. Nur Wochen später bekehrte er sich in Toronto und wurde Botschafter der Christlichen Ostmission (COM). Geboren 1951, beging er Selbstmord mit einer Schußwaffe in Kalifornien am 1. Januar 1973. Seine Biografie, die nach seinem Tode von der COM publiziert worden ist, erschien in mindestens 14 Sprachen mit einer Gesamtauflage in den Millionen.

 

Verfaßt im Stile einer Saulus-zu-Paulus-Geschichte, zog dieser Junge aus einem brutalen Waisenhaus in einem sibirischen Dorf nach Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschatka, um sich bei der Marine zum Offizier ausbilden zu lassen. Während seiner Ausbildung dort von 1969 bis 1971 soll er sich an 150 Angriffen auf protestantische Gläubige und Versammlungen beteiligt haben. Eine Person, die besonders brutal angegriffen worden war, war ein Mädchen namens Natascha.

 

Besonders entwaffnend und überzeugend bei diesem Film ist die Tatsache, daß sich Caroline Walker Ende der 90er Jahre nach Rußland aufgemacht hatte in der Absicht, die Erzählungen Kourdakows zu beweisen. Noch vor ihren Recherchen vor Ort hatte sie ein Drehbuch über das Buch verfaßt, das nie übernommen worden ist. Am Ende des Films gibt es ein Interview aus Costa Rica mit L. Joe Bass, dem Gründer der Christlichen Ostmission. Er wirft Frau Walker vor, verdeckte Ziele zu verfolgen. Die hatte sie tatsächliche am Anfang ihrer Recherchen: Sie wollte die Schilderungen Kourdakows belegen und beweisen. Doch genau das Gegenteil war das Ergebnis – eine äußerst schmerzliche Erfahrung für die Journalistin. Trotz dieser gewaltigen Enttäuschung (sie beschrieb es als Verrat) gab sie ihre warmen Gefühle für die Person Sergei nie preis. Caroline Walker war keine Vorkämpferin – sie hinterläßt den Eindruck, sensibel und schüchtern zu sein. Sie schrieb in einem Blog lange nach Erscheinung des Films, daß sie es verabscheute, sich selbst auf Film zu sehen. Sie war eine Pfingstlerin, zutiefst religiös und pietistisch. 

 

Ein paar Enthüllungen aus dem Film: „Die große Irene“, die „stattliche und furchterregende“ Leiterin des Waisenhauses von Sergei in Barysewo/Sibirien, erscheint zu einem Jubiläumsfest. Sie erweist sich als eher kleinwüchsig, allgemein hoch geschätzt und verehrt von ihren ehemaligen Schützlingen. Es hatte 1963 eine Getreideverknappung im Lande gegeben, doch keiner im Waisenhaus war dem Hungertod nahe, im Gegensatz zur Schilderung Kourdakows.

 

Bei einer Begegnung mit Boris, dem älteren Bruder von Sergei (ihr Vater verstarb 1959), meint Boris eingangs, es müsse sich um eine Verwechselung, um einen anderen Sergei Kourdakow, handeln. Ihr Vater war ein ganz gewöhnlicher „Kolchosnik“ (bäuerlicher Mitarbeiter), der keinen Grund hatte, auf Befehl Nikita Chruschtschows getötet zu werden. Im Buch behauptet Sergei, das ferne Moskau 17-mal besucht zu haben. Walker fand kein Indiz dafür, daß er jemals in der Hauptstadt gewesen war. 

 

Im Buch erzählt Kourdakow von einem “berühmten sowjetischen Schriftsteller”, der ein Buch über ihn verfassen wollte. Im Jahre 2011 gab Walter Pallis bekannt, daß Sergeis Mitschüler die Identität des „berühmten Schriftstellers“ festgestellt hatten. Es handelte sich um einen Hobby-Schriftsteller vom Ort, der gelegentlich im Heim auftrat. Daraus folgerte sie: „Wenn Joe Bass eine Fabel über einen sowjetischen Schriftsteller hätten aushecken wollen, hätte er sich bestimmt einen echten, wirklich berühmten Autor ausgesucht.“ Dies weist nach Meinung der Autorin darauf hin, daß das Erdichten mindestens zum Teil auf Sergei selbst – und nicht nur auf die Ghostwriter - zurückzuführen ist. Plowman hatte berichtet, daß die Zeitschrift „Guideposts“ und andere an der Abfassung des Buches beteiligt waren.   

 

Noch vor 2010 machte ein russischer Redakteur Natascha Zhdanowa, das Mädchen, das in den meisten Titeln des Buches erwähnt wird, ausfindig. Sie war Sergeis Brieffreundin; die beiden waren sich nie persönlich begegnet. Natascha lebte damals, wie heute, in der Ukraine. Offensichtlich griff Kourdakow die Namen echter Personen auf und versah sie mit fiktiven Angaben.

 

Im Jahre 2012 versicherte Caroline, jemand in Petropawlowsk hätte ganz bestimmt einiges bestätigen können, wenn Anfang der 70er Jahre 150 Angriffe tatsächlich stattgefunden hätten. Doch konnte nicht einmal ein Baptist bestätigen, daß Überfälle überhaupt stattgefunden hatten. Sie folgerte, daß wahrscheinlich die Gläubigen im Sperrgebiet Kamtschatka „mehr Freiheit genossen als jene in anderen Regionen“.

 

Die gutgläubigen Gläubigen

Sergei Kourdakows Erzählung war zumindest teilweise widerlegt schon vor der Erstveröffentlichung des Buches. Der Aufsatz Ed Plowmans vom April 1973 haben wir bereits erwähnt; ein weiterer, frühzeitiger Zweifler war der baptistische Historiker Albert Wardin. Sogar der Rumäne Richard Wurmbrand (1909-2001), der wohl bekannteste christliche Kämpfer an der antikommunistischen Front, hatte der Underground Evangelism  vorgeworfen, einen blutjungen und unreifen Christen auszubeuten. Ein in der UdSSR geborener Blogger, Igor Jantaltsew, fügte 2018 hinzu: Sergei “hielt es für nichts Besonderes, wenn er einiges hinzudichtet. . . . Er befand sich in einer betont antikommunistischen Umgebung und konnte auch dieser Versuchung nicht widerstehen, den Leuten noch mehr zu erzählen über die Entsetzlichkeit des Lebens im Reich des Bösen. Es bestand eine Nachfrage; er lieferte das Angebot. Der Bursche beschleunigte, geriet ins Schleudern und verlor die Kontrolle.“

 

Eine Art Frauenheld, Kourdakows Verhalten sprengte evangelikale Moralvorstellungen. Während seiner Befragung durch die US-Geheimdienste in Washington um August 1972, entwickelte sich ein Verhältnis mit K. Kidd, einer Sekretärin gleichen Alters. Ihr Buch von 2014, „Eine Rose für Sergei“, enthält mindestens ein Foto, das sie gemeinsam mit ihm in einer sittlich fragwürdigen Pose zeigt. Nur wenige Monate später den Berichten zufolge verlobte sich Sergei mit einer 17-jährigen Kalifornierin. Das ist die Dame, mit der Sergei die letzte Nacht in seinem Leben verbrachte.

 

Trotz aller gegenteiligen Indikatoren wurde das Buch ein Bestseller. Ganz wesentlich in der Verteidigung des Buches ist die Behauptung, daß der KGB Kourdakow ermordet hatte. Diese These stammte höchstpersönlich von Joe Bass; er erwähnte sie in seinen Anmerkungen zur allerersten Auflage. Die romantisch involvierte K. Kidd erkannte noch 2014 keine weitere stichhaltige Erklärung: „Die Leute aus seinem Lande vergessen nie.“ Jedoch weisen die 2017 freigegebenen FBI-Unterlagen zu diesem Todesfall keineswegs auf eine derartige Variante hin. Zu diesem entweder beabsichtigten oder unbeabsichtigter Selbstmord siehe:  “www.muckrock.com/news/archives/2017/nov/28/curious-case-sergei-kourdakov-part-1/”.  Natürlich würde die gesamte Weltanschauung mancher Gutgläubiger zerschellen, wenn der KGB nicht der Mörder gewesen wäre. Eine solche Bruchlandung wäre natürlich schmerzlich.

 

Blogger, die auch nach der Dokumentation von 2004 für die Richtigkeit des Buches einstehen, verweisen verschiedentlich auf besondere moralische Verfehlungen, die dem russischen Volk zueignen sind. Russen neigen eben zur Lüge. Ein Mensch namens „Bob“ schrieb am 18. Dezember 2012: „Ich halte Sergeis Beschreibungen für hundertprozentig echt.“ Die Menschen „erzählten der Interviewerin, was sie gerade hören wollte. Das ist Teil der russischen Art.“

 

Ein Mike Walker schreib am 3. Januar 2016: “Vieles von dem, was Caroline in Rußland gesehen hat, hätte gestellt sein können. Die russischen Beamten hätten auch allerlei Grund gehabt, das zu tun. Die wußten weit im voraus von ihren Reiseplänen. . . . Mir kommt es als naiv vor zu glauben, man würde eine christentum-freundliche Dokumentation drehen können, die größtenteils auf den Aussagen jener basiert, die unter der Kontrolle der kommunistischen Machthaber leben.“

 

Der Inhaber der Webseite “featheredprop.com” aus Somerset/Pennsylvania wandte die Erkenntnisse der Körpersprache auf die Dokumentation an und beschloß, daß die meisten der Befragten mit der Wahrheit nicht herausrückten. Doch trübte er das Wasser als er Joe Bass bei den „Lügnern“ einreihte. „Man wird’s eben nie wissen können“ ist dann die übliche Schlußfolgerung.

 

Ein Blog von Michael Raykovich aus dem Jahre 2019 ist mein persönlicher „Anti-Favorit“: „Diese Leute (im Film) haben Angst davor, die Wahrheit zu sagen. Sie wohnen noch immer in Rußland; sie könnte leicht das gleiche Schicksal treffen wie bei Sergei.“

 

Michael McDonald erwiderte schon am 30. August 2013: “Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele ‘Gläubige’ in Anbetracht der Fakten weiterhin auf ihre Unwahrheiten pochen.“ Das ist eine entmutigende Erinnerung an die Ungläubigen, die unseren Glauben wie folgt definieren: Glaube kommt ohne Fakten aus. Er kann bar aller Fakten gedeihen.

 

Das Echo in Rußland – ein Kommentar

Diese Dokumentation von Walker und Wojciechowski wurde 2004 bei einem Filmfestival in Nowosibirsk gezeigt. Ein Bericht im Internet gibt an, daß wenige Zuschauer vom Ort länger als 20 Minuten des Filmes aushielten. Was stört Russen an „Vergib mir Natascha“? Meine russische Gattin und ihre Freunde machen einen riesigen Bogen um solche Geschichten. Obwohl diese Personen weder Kommunisten noch FSB sind, stoßen sie sich an einer Schilderung ihres Landes, die sie für extrem ideologisch und verquer erachten. Diese Geschichte entspricht nicht der sowjetischen und russischen Realität, die sie selbst durchlebt haben. Eigentlich verhalten sich die US-Amerikaner kaum anders: Sie reagieren ebenfalls negativ, wenn Außenstehende ihr Land mit Schmutz bewerfen.

 

Nordamerikaner und Russen bewerten Vorkommnisse höchst unterschiedlich. Nehmen wir uns noch einmal das Gorbatschowsche Erbe in Rußland und dem Westen vor. Der Westen weist auf Freiheit und Menschenrechte hin; die Russen denken an Brot und Obdach – und an die vergangene Größe ihres Landes.

 

Ein äußerst beunruhigender Fakt besagt, daß die meisten Menschen im Westen leichte Beute sind für das, was ihre Lieblingsmedien und –prediger ihnen weismachen wollen. Die Mehrheit kann sich nicht vorstellen, daß sich die Medien ihrer Wahl für Zwecklügen und Propaganda hergeben würden.

 

Nun stehen die US-Elite und ihre Medien in den Startlöchern für einen Großangriff auf China. Rußland ist nicht imstande, den USA in militärischer und ökonomischer Hinsicht Paroli zu bieten – das kann China aber durchaus, jedenfalls auf ökonomischem Gebiet. Erschütternde Geschichten über das Schicksal des türkischen Volkes der Uiguren in Westchina – und über Hongkong – werden zubereitet. Am Großangriff werden sich die Evangelikalen beteiligen.

 

Natürlich bestehen handfeste Probleme und Repressalien, doch Druck von auswärts kann niemals eine leise und ernsthafte Diplomatie ersetzen. Bedauerlicherweise werden einmal wieder Fälle von Glaubensverfolgung instrumentalisiert werden, um zum Auffüllen der Geldkoffer des gewaltigen Militärapparats der USA beizutragen.

 

Wie geht es Caroline Walker Pallis? Geboren um 1968, wohnt sie weiterhin in Texas. Im Jahre 2004 wechselte sie zur römisch-katholischen Kirche; fünf Jahre später heiratete sie einen ethnischen Griechen, der dem griechisch-orthodoxen Glauben angehört. Sie ist inzwischen Mutter geworden. Auf meine Bitten um ein kurzes Interview hat sie nicht reagiert.

 

Ihr Pastor hatte ganz am Anfang des Projektes prophezeit, daß sich eine “unglaubliche” Geschichte ergeben würde. Das ging auch tatsächlich in Erfüllung, doch nicht so, wie man sich das vorgestellt hatte. Caroline schrieb 2012: „Ich bin sehr froh, daß ich jenes Drehbuch nie verkaufen konnte und dabei ein Riesenbatzen Geld verdienen. (Das hätte dafür gesorgt), daß ich weiterhin an eine Lüge glaubte.“

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, Kaliningrader Gebiet, den 3. Juni 2020

 

Alle Zitate sind Übersetzungen aus dem Englischen und können deshalb vom publizierten deutschen Buchtext abweichen.

 

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