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Tuschino: Eine höchst erfolgreiche Moskauer Gemeinde

Evangeliumschristen – Baptisten ohne die übliche Ausstattung
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Neue Entwicklungen bei der “Evangelischen Kirche Tuschino” in Moskau

 

L a d u s c h k i n -- In einer Zeit abnehmender Zahlen kommt einem die “Evangelische Kirche Tuschino” wie eine Erfolgsgeschichte vor. Obwohl sie erst 1992 das Licht der Welt erblickte, erlebt diese Gemeinde im Nordwesten Moskaus einen Gottesdienstbesuch von rund 500. Im Jahre 2000 zeigte sich die Gemeinde imstande, ein prächtiges Kulturhaus zu erwerben. Damit wurde der Bau zum zweitgrößten protestantischen Gotteshaus der Metropole nach der lutherischen “Sankt Peter-und-Paul Kathedrale”. Dank seiner Größe war das Haus imstande, von 2005 bis 2009 die nicht mehr bestehende “Russisch-Amerikanische Christliche Universität” eine Heimat zu bieten. Heute kann sich der sonntägliche Kirchgang auf den ganzen Tag ausdehnen: Nach einem Mittagessen kann der Besucher weitere Aktivitäten und Kurse in Anspruch nehmen. An Sonntagen werden die Tore selten vor 16,00 Uhr geschlossen.

 

All dies ist erreicht worden ungeachtet der Tatsache, daß die Gemeinde bei der Abspaltung im April 2003 von der altehrwürdigen “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten” (RUECB) 70% seiner Mitglieder verlor. (Siehe den ersten Bericht vom 16. Oktober 2009 unter “RU Pfingstler” auf unserer Webseite.)

 

Leitender Pastor Alexander Kusnetsow (geb. 1960) – er war gemeinsam mit Andrei Petrow auch ein Gründungspastor der Gemeinde – versteht die Einheit als der Schlüssel zu jedem protestantischen Erfolg. Er versichert: Unsere Bewegung ist so klein geblieben, “weil wir keine Einheit haben. Und wenn auch immer wir die Einheit erreichen, antwortet Gott.” Kusnetsow betont, daß er seine eigenen theologischen Überzeugungen und biblische Auslegungen nicht höher erachtet, als diejenigen anderer: “Wir behaupten nie, daß unsere Gemeinde exklusiv sei.“ Alles Gute stammt von Gott und der orthodoxe Glaube verfügt ebenfalls über viele aufrichtige Gläubige. “Alle, die Christus verkündigen, sind meine Geschwister; es gibt nur eine Kirche.”

 

Der Leitende Pastor sieht die Geringfügigkeit der Protestanten als ein Haupthemmnis auf dem Wege zum Erfolg. Alle Protestanten sollten den Schulterschluß üben, alle Hände müssen „an Deck sein”, wenn sie noch Hoffnungen hegen, von der Gesellschaft ernst genommen zu werden. Nach seinen Einschätzungen leben in Moskau 40.000 Protestanten, die sich in etwa 350 Gemeinden versammeln. Wenn man von einer Bevölkerung von 20 Millionen im Großraum Moskau ausgeht, ergibt sich daraus einen Prozentsatz von 0,2% des Volkes. Er meint, die Anzahl getaufter russischer Protestanten übersteigt keineswegs die Zahl von 600.000. Die Russische Gesamtbevölkerung beträgt fast 146 Millionen. Die „WSECh“, die „All-Russische Gemeinschaft der Evangeliumschristen“, zu der auch Tuschino gehört, soll über 350 Gemeinden verfügen.

 

Alexander Kusnetsow erkennt in der protestantischen "Subkulturnost", in ihrer Empfindung, eine von der allgemeinen Gesellschaft abgesonderte Subkultur zu sein, eine bedeutende Wachstumsbremse. Diese Subkultur zeichnet sich durch traditionelle Kleidervorschriften, Sprache, einen Verhaltenskodex und eine geringe gesellschaftliche Stellung aus. Solche Attribute wecken Angst und Furcht bei Außenstehenden. Man sollte deshalb Neuankömmlinge niemals mit abrupten Appellen wie: "Ihr seid verloren - werdet gerettet!" überfahren. Der Pastor erläutert: "Außenstehende verstehen uns nicht. Sie müssen erst einmal erfahren, wie wir leben und wie unsere Familien sind. Sie müssen sich mit unseren Anliegen vertraut machen."

 

An dieser Stelle findet Kusnetsow den Ansatz des Kaliforniers Rick Warren und seiner "Saddleback Church" besonders attraktiv. "Er versucht zunächst, den Menschen zu helfen, indem er ihnen Selbsthilfeprogramme anbietet". Tuschino bietet folglich Programme an, die über Substanzmißbrauch hinausgehen, wie Frauengruppen, Konzerte und Kulturausstellungen. Ein Weihnachtsmarkt mit Weihnachtsmann gibt es ebenfalls.

 

Dieser Ansatz koaliert sogar mit den anti-missionarischen "Jarowaja-Gesetzen" von 2016. "Wir mußten nur ein paar Anpassungen vornehmen", versichert der Pfarrer. Eine frontale Vorgehensweise ist ungeeignet. Die Ehegattin, Pastorin Ludmilla Kusnetsowa, ist Weißrussin und er verweist auf die Arbeit der Gemeinde "Heil" (Spasenie) in Brest. An Wochentagen verwandelt sich diese Kirche in ein Sportzentrum, das Tischfußball sowie Kurse für Frauen und Schwangere anbietet.

 

Trotz protestantischer Geringfügigkeit fühlt sich Kusnetsow der orthodoxen Herausforderung gewachsen. Er glaubt, daß es immer „einen Markt“ für evangelische Angebote geben wird. "Viele Russen, auch ältere, verstehen orthodoxe Riten nicht." Ein strenges Ritual und eine getragene Theologie decken nicht die breite Geschmackspalette ab, die auch in Russland vorhanden ist.

 

Der Pastor wertet die Auswirkungen von Covid-19 nicht einmal als ausschließlich negativ. "Unsere Gemeinde war für drei Monate ab dem 15. März 2020 nur on-line zu erleben", erinnert er sich. "Das war eine Prüfung, aber die Ergebnisse der Online-Arbeit sind eher positiv als negativ. Wir mußten unsere Rahmen und Inhalte verbessern. Online-Arbeit ist ein Wettbewerb, und das ist gut so." Ihre Gottesdienste erlaubten es, das Abendmahl zu Hause mit dem eigenen Brot und Getränk zu feiern. Er fügt hinzu: "Aber ich glaube, der persönliche Kontakt ist unersetzlich. Wenn die Menschen ganz aufhören, zur Kirche zu kommen, werden Sie schließlich auch aufhören, on-line zuzuhören. Das Internet bleibt eine Frage der rechtmäßigen Nutzung; Es ist an sich eine neutrale Ressource, wie Radio oder Bücher." Die Pandemie führte nicht einmal zu einem Rückgang der Einnahmen; die Gemeinde versteht sich als finanziell selbsttragend.

 

Hat die vollkommene Abwesenheit von Westbesuchern Folgen gehabt? „Überhaupt nicht“, versichert der Leitende Pastor. “Wir hatten schon vorher kaum Besucher aus dem Westen.” Johannes Reimer aus Deutschland, ein evangeliumschristlicher Rußlanddeutscher, der jetzt als Direktor für öffentliche Verantwortung bei der “Evangelischen Weltallianz” fungiert, bleibt ein enger Freund.

 

Trotz seiner Vorbildfunktion hat Tuschino Rick Warrens Pläne abgelehnt, eine „Saddleback-Moskau-Niederlassung ins Leben zu rufen. Kusnetsow ist überzeugt, daß Ableger von Westgemeinden auf russischem Boden nicht in die Zeit passen: “Russen haben ihre eigene Kultur und Empfindungen. Bedenken wir mal, wie viel Mühe und Geld die südkoreanischen Kirchen in Rußland investiert haben!”, sagt er. “Es war aber leider umsonst.” Strenge koreanische Disziplin und Ordnung passen schlecht zur russischen Seele.

 

Saddleback hat daraufhin gefragt, wie sie sonst am besten den Kirchen Russlands dienen könnte. Das Ergebnis ist ein Informationszentrum mit Schulungsmaterialien, das in der “Baptistenkirche Selenograd“ vorhanden ist. Das ist eine nördlich von Moskau gelegene Gemeinde der WSECh.

 

Die jüngste Vergangenheit
Die Gemeinde Tuschino ist 2018 offiziell vom pfingstlerischen Bund ROSChWE zur WSECh gewechselt. “Die Zeiten haben sich bei ROSChWE geändert,” berichtet Kusnetsow. “Noch im Jahre 2003 überlegten sie, den Namen „Pfingstler“ fallen zu lassen. Doch seitdem haben sie sich entschlossen, noch pfingstlerischer zu werden.” Die Evangeliumschristen der WSECh orten sich in der Mitte zwischen Pfingstlertum und Baptismus, doch der Leitende Pastor beschreibt sich als “eher baptistisch als pfingstlerisch”. Tuschino hat weder Zungensprache noch Geistestaufe propagiert.

 

Es gab Stimmen, die wünschten, daß Tuschino ins baptistische Lager (zur RUECB) zurückkehrt. Doch Kusnetsow wünscht sich keinen erneuerten Streit um Nebensachen wie Formen der Anbetung, die Lautstärke der Musik oder die Bekleidung. “Wir praktizieren auch das offene Abendmahl.” Außerdem dient die Gattin Ludmilla seit 2004 als eine Pastorin in der Gemeinde. Sie arbeitet in erster Linie mit Frauen und Kindern. Auf die Bibel hinweisend meint ihr Mann, daß eine Frau nicht in der Regel als Leiter einer Gemeinde dienen sollte. Kusnetsow und Leonid Kartawenko von der Gemeinde namens „Deine Gemeinde“ in Moskau sind die aktuellen Leiter von WSECh.

 

Alexander Kusnetsow vertritt die Auffassung, daß protestantische Frauen noch in den 1920er Jahren mehr Freiheiten genossen als heute. Es waren die Stalinschen Repressionen, die Baptisten in eine enge Subkultur hineinzwängten, die die Beteiligung von Frauen einschränkte.

 

Die Politik
Die Schärfe der Einschränkungen gegenüber der Mission, die von der Jarowaja-Gesetzgebung stammen, werden sehr unterschiedlich ausgelegt. Nach dem Leitenden Pastor sind die Repressionen am schärfsten in ländlichen Gebieten, in denen Staatsorgane wenige Kenntnisse über Evangelikale haben. Protestanten haben gelegentlich noch immer Zugang zu Krankenhäusern und Gefängnissen. Da Schulen überkonfessionell sind, hält er missionarische Bemühungen in Schulen für unpassend.

 

Kusnetsow meint, daß die protestantischen Kirchenleitungen in Belarus richtig auf die gegenwärtige Staatskrise reagieren. Ihre Aufforderungen bleiben allgemein; sie verlangen Gebet, Gewaltlosigkeit und neue Abmachungen zwischen den Regierenden und den Regierten. Einzelne Pastoren, besonders jüngere, werden öfters recht spezifisch in ihren Forderungen. Und doch “können ganze Kirchen keine konkreten politischen Forderungen stellen, weil schon ihre Mitglieder in politischen Fragen keine einheitliche Meinung vertreten.“

 

Tuschinos russischsprachige Webseite ist zu finden unter: “https://t495.ru”.

 

Dr. phil. William Yoder
Laduschkin, den 10. Februar 2021

 

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Anmerkung von August 2021: Wir veröffentlichen einen ersten Bericht über die Gemeinde in Tuschino am 16. Oktober 2009. Jener Aufsatz befindet sich ebenfalls auf dieser Webseite unter "Pfingstler".