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Ein Baptist in der DDR ließ sich auf das kommunistische Umfeld ein

Christen isolieren sich nicht

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Zum Wirken des Theologen Carl-Jürgen Kaltenborn in der DDR

 

L a d u s c h k i n -- Der Baptist und damalige Theologie-Dozent Carl-Jürgen Kaltenborn löste einen Sturm der Entrüstung aus, als er etwa 1963 von der Kanzel der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Weißensee aus die Frage aufwarf, weshalb sich die Gläubigen gegen eine Aufnahme der eigenen Kinder in die "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) bzw. in die Jungpioniere auflehnten. Das hatte weitreichende Konsequenzen für seinen Dienst als baptistischer Geistlicher in der DDR.

 

Völlig unvorstellbar in der damaligen DDR wurde dieser überzeugte Christ wenige Jahre später blauhemdtragende FDJ-Wissenschaftssekretär der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität. Habilitiert im Jahre 1976, wurde Kaltenborn sieben Jahre später Professor für Ökumenik an dieser Fakultät. Um diese Zeit, wirkte er bei Pioniernachmittagen seiner Kinder mit und berichtete dort von Indianern und sonstigen fernen Fremdkulturen. Dazu sagt er heute: „Das kam ganz toll an.“

 

Bei aufgezeichneten Gesprächen in seiner Wohnung in Bernau bei Berlin im Juli und August 2019 beschrieb der 1936 geborene Kaltenborn seine Argumentation in Weißensee wie folgt: „Warum sollten (die Kinder) da nicht hin? Und das nicht aus Opportunismus, sondern um einfach zu zeigen: Wir sind nichts Besseres oder Schlechteres als die anderen. Wir versuchen auf allen Ebenen, die uns zugängig sind, unser Christsein zu leben. Warum sollten wir unsere Kinder unnötig isolieren?“

 

Mit dem Aufbau einer FDJ-Gruppe an der Theologischen Fakultät wollte er gegenüber Staat und Partei „ein deutliches Zeichen geben. Wir setzen uns nicht von euch ab; wir machen gemeinsame Sache.“ Seine damalige Kooperation mit der FDJ-Kreisleitung bezeichnet er heute als dankenswert.

 

Professor Kaltenborn bezeichnet es selbst als „grotesk“, daß er mit 18 Jahren als Steinmetzlehrling aus der FDJ ausgetreten war. Seine damalige Begründung hieß: „Die FDJ baut sich auf den Grundlagen des Atheismus auf - und ich bin Christ.“ Daraus ergaben sich für ihn keine Repressalien. Aufgewachsen in Wernigerode/Sachsen-Anhalt, waren sowohl Vater wie Großvater einstige Parteigenossen der NSDAP. Das war für die Entwicklung des jungen Baptisten nicht unwesentlich.

 

Wie den meisten linken Theologen in der DDR, wurde auch Kaltenborn nach der Wende Komplizenschaft mit der Staatssicherheit vorgeworfen. Auf „Wikipedia“ heißt es z.B., seine Wahl zum Internationalen Sekretär der "Christlichen Friedenskonferenz" (CFK) sei „von der Hauptabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit und der kirchenpolitischen Abteilung des KGB gesteuert“ gewesen.

 

Im genannten Gespräch von 2019 hat Kaltenborn zum Thema Stasi auf seinen Gefährten Peter Franz (geb. 1941) verwiesen. Bis zu seiner Amtsenthebung 1997 hatte Franz 30 Jahre lang als Pfarrer in Kapellendorf bei Weimar gedient. Franz war schon von sich aus auf die Stasi zugegangen. Kaltenborn zitierte seinen Freund wie folgt: „Ehe die Sicherheitskräfte um drei Ecken herum . . . etwas serviert bekommen, können sie es doch direkt von mir haben. Ich bin die Originalquelle. Ich lade die Herrschaften ein; sie können zu mir kommen.“

 

Kaltenborn räumt ein, er habe bei der Vorbereitung von CFK-Tagungen und beim Einladen ausländischer Gäste mit Sicherheitsstellen zu tun gehabt. „Natürlich wußte ich, daß da über alle Sicherheitsschleusen hinweg Dinge liefen.“ Leute sahen sich „zuständig dafür, daß die DDR abgesichert ist und keine falschen Leute sich einschleichen. Aber daß man daraus Probleme machte, fand ich witzig. Das finde ich noch heute witzig, weil das ja (keine) einmalige Eigenart des DDR-Staates war. Das haben alle Staaten (an sich), solange es Staaten gibt.“ Er weist den Vorwurf zurück, er habe Menschen seines Vertrauens bei staatlichen Stellen denunziert.

 

Nach der Wende hatte Peter Franz abermals die Flucht nach vorne gewagt und schon von sich aus den eigenen Verkehr mit der Staatssicherheit in einem Weißbuch dokumentiert. Dazu Kaltenborn: „Ich habe es nicht gehalten wie Peter Franz, der (nur so lange) Pfarrer sein durfte bis ihn seine lieben Mitbrüder (und ein Fernsehteam) zur Strecke brachten.“ Aus den eigenen Enthüllungen war dem Pfarrer von Kapellendorf ein Strick gedreht worden.

 

Da hat sich der baptistische Professor weniger großzügig verhalten. Obwohl vermeintlich belastende Akten vorhanden sind, verfährt er nach der Devise: „Wer sich vor zwei verteidigt, klagt sich selber an. Für mich (sind diese Gespräche) so selbstverständlich gewesen – und sie sind es bis heute noch.“ Da die westlichen Akten weiterhin verschlossen sind, ist nicht nur Kaltenborn der Meinung, daß Untersuchungen ausschließlich anhand der DDR-Stasi-Unterlagen ein wissenschaftlich äußerst fragwürdiges Stückwerk sind. Sie können höchstens die Hälfte einer komplizierten Gesamtwirklichkeit darstellen.

 

Zu leiden hatte nicht nur Franz: Im Jahre 1993 wurde Carl-Jürgen Kaltenborn mit 57 Jahren seines Professorenstuhls an der Humboldt verlustig.

 

Die moralische Äquidistanz – ein Kommentar

Der betagte Rentner Kaltenborn geht noch heute die Wände hoch, wenn jemandem wegen einer positiven Äußerung bezüglich der DDR „Systemstabilisierung“ vorgeworfen wird. Gemeint damit sind Äußerungen noch vor dem Niedergang der DDR. Seine Haltung ist verständlich, wenn man davon ausgeht, daß der „realexistierende Sozialismus“ und sein westliches Pendant ähnlich weit von den moralischen Absolutheiten entfernt sind. Dann ist es eben gerechtfertigt, gegenüber beiden Systemen die gleiche Elle anzulegen.

 

Sicherlich bietet der politische Westen einerseits individuelle Freiheiten in einem Maße an, wovon Menschen des einstigen Ostblocks nur träumen konnten. Doch andererseits hat die Supermacht, die im Westen das Sagen hat, Millionen von seit 1945 verursachten Kriegstoten auf dem Gewissen. Wer will hier Gott spielen und ein Gesamturteil im Namen der Moral fällen? Und müssen sterbliche Menschen mit einem begrenzten Wissen überhaupt ein Urteil wagen? Sollte man den Christen nicht lieber einfach sagen: „Blüht dort auf, wo ihr eben gepflanzt worden seid. Suchet der Stadt Bestes in dem System, in dem Ihr Euch befindet.“ Jawohl – bei dieser Gleichung sollten faschistische Systeme eine Ausnahme bilden. Und möge Gott es schenken, daß wir nicht erst im Nachhinein derartige Notstände erkennen!

 

Kehren wir zur FDJ zurück: Wie soll man sich verhalten gegenüber dem Stachligen, dem Mißliebigen? Wer will schon ein Stachelschwein – etwa die DDR – umarmen? Ist jedoch die Selbstisolierung jemals gerechtfertigt? Das persönliche Kennenlernen bewirkt sehr viel mehr als das Abschotten – oder Sanktionen. Es lohnt sich, die eigene Komfortzone zu verlassen.

 

Wie hätte man am ehesten den Atheismus der SED aufbrechen können - in dem man sie einfach mit unserer Abwesenheit bestrafte? So haben es ja die meisten versucht.

 

Darf ich mich im vorauseilenden Gehorsam selber entfernen? Oder sollte ich lieber warten, bis andere mich hinausbefördern? So haben es Franz und Kaltenborn in den 90er Jahren gemacht.

 

Kaltenborn war bemüht, so gut es ging mit möglichst vielen Gremien und Vereinen zusammenzuarbeiten. An den Stellen, wo man sich einig war, arbeitete man zusammen. So macht er es auch mit den Freidenkern im gegenwärtigen Jahrhundert. Wir dürfen gegen die Berührungsängste vorgehen. In der Regel werden Berührungen beide Seite nur bereichern.

 

Eine Anmerkung: Das ausführliche Interview mit Kaltenborn von 2019 liegt unter Verschluß im Archiv des Bundes Ev.-Freikirchlicher Gemeinden in Elstal bei Berlin. Nur mit dem Einverständnis des Archivs und des Professors Kaltenborn wird der Zugang gewährt. Das Archiv ist als Quelle dieses Aufsatzes zu verstehen.

 

Dr. phil. William Yoder
Laduschkin, den 17. Februar 2021

 

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