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Die Baptisten Tschitas sind als Erfolgsgeschichte zu verbuchen

Photos von links nach rechts: Die "Antiochia"-Gemeinde, Wladimir Stremetski, Alexei Sarapulow

Alle Aufnahmen gemacht von Yoder in Tschita, 15 Juli 2021.

 

Von 13 auf 250 Mitglieder

 

L a d u s c h k i n -- In der Ära Gorbatschow um 1987 bestand die Baptistengemeinde der fernöstlichen, russischen Stadt Tschita nur noch aus 13 älteren Mitgliedern – 12 von ihnen waren Frauen. Die 1914 gegründete Gemeinde hatte lange zuvor in den 1920er Jahren ihre Blütezeit erlebt; das stattliche, hölzerne Bethaus von damals ist noch heute zu bewundern. Im Verfolgungsjahr 1937 suchte eine Katastrophe ihr dann heim: Bei einer geheimen, abendlichen Versammlung nahm die Geheimpolizei alle anwesenden Männer sowie einige Frauen mit. Eine Wandtafel in der heutigen „Antiochia“-Gemeinde berichtet, daß niemand von den damals Verhafteten jemals nach Tschita zurückkehrte. Ende der 40er Jahre ließ man die Gemeinde vorübergehend wieder zu, doch erst 1977 errang sie eine dauerhafte juristische Zulassung. Nun fiel ihre Bleibe sehr viel bescheidener aus; es handelte sich um eine winzige Holzhütte am Rande der Stadt, die später als Rehazentrum fungierte.

 

Im Jahre 1987 traf der emsige Ruwim Woloschin – ein Ukrainer aus Moldawien – ein. (Siehe unsere Meldung über Grosny vom 05.12.2020.) Die Freude vor Ort war jedoch nicht einhellig: Die betagten, treuen Mitglieder der Gemeinde hatten das vertraute, sehr beschauliche Gemeindeleben liebgewonnen. Der begabte Organisator, Woloschin holte dennoch Hilfe aus dem In- und Ausland (einschließlich Deutschlands und Nordamerikas) heran; 1989 rückte ein ganzes Hilfskommando von Freiwilligen für einige Jahre an. Noch heute zeugen Container im Hinterhof des Gemeindehauses von der regen, lebensrettenden humanitären Tätigkeit in den 90er Jahren.

 

In der Not der 90er Jahre brachte die Kommune den eingetroffenen Baptisten großes Verständnis entgegen. Wladimir Stremetski, gegenwärtig der leitende Baptistengeistliche (Starschi Presbyter) der Stadt, berichtet, man habe damals auch ohne jegliche Dokumentation baptistische Gemeindemitarbeiter in die Gefängnisse zu Besuchen hereingelassen. Kommunale Sportveranstaltungen, Krankenhausbesuche, Soldatenseelsorge, Konzerte, Filmabende, diakonische Aufgaben und Sommerlager für Kinder rundeten das Bild ab. Für manche Tätigkeiten gab es sogar staatliche Zuschüsse. Bis in die jüngste Zeit hinein stellten sich Baptisten der Stadt für Sanierungsarbeiten an öffentlichen Einrichtungen – etwa Malerarbeiten auf Sportplätzen und in Parks – zur Verfügung. Das fand bei den älteren Geschwistern nicht immer Zustimmung; sie meinten, das mündliche Predigen des Evangeliums sollte genügen.

 

In der gesamten Region hatte sich ein reger Besuchsdienst entfaltet; noch heute betreuen die Tschitaer Gemeinden weitere 11 Gemeinden im Gebiet. In manchen von ihnen ist noch ein Wachstum zu verzeichnen. Dabei bleiben die registrierten Baptistengemeinden in dieser zumeist menschenleeren Region hervorragend vernetzt. Als der Verfasser im Juli 2021 die „Antiochia“-Gemeinde besuchte, waren gerade Glieder aus der „benachbarten“ Gemeinde Ulan-Ude zu Gast. Ulan-Ude, eine Hochburg des russischen Buddhismus, liegt rund 10 Stunden Bahnfahrt weiter westlich.

 

Diese zugleich heiße sowie sehr kalte Stadt Tschita liegt an der Transsibirischen Eisenbahn unweit der Grenze zur Mongolei und nach China. Für den Güterverkehr mit China spielt sie eine entscheidende Rolle; die Einwohnerzahl liegt bei 350.000.

 

Zwei Pastoren in der Stadt sind ein Beleg dafür, daß sich im Umkreis der Gemeinde vieles verändert hat. Scherzhaft weist Alexei Sarapulow, Pastor einer kleineren Baptistengemeinde der Stadt, darauf hin, daß früher er und Stremetski sich gegenseitig hätten jagen müssen. Sarapulow war früher Polizist und der Geschäftsmann Stremetski ging, bis zu seiner Bekehrung 2007, bei der Ortsmafia ein und aus.

 

in Anbetracht der vergangenen Wachstumsraten stammten sehr wenige ältere Gemeindeglieder aus einem baptistischen Zuhause. Jewgeni Sarapulow, der jüngere Bruder von Alexei, ist seit Jahren der bekannteste protestantische Psychologe Moskaus. Bekannt wurde er durch seine Beiträge für die Moskauer Niederlassung von „Radio Teos“. Mehrere Kinder von Alexei befinden sich auf dem Wege, professionelle, klassische Musiker zu werden. Erst nachdem die beiden Brüder sich bekehrt hatten, fanden auch die Eltern den Weg zum Glauben.

 

Doch heute, so räumt Stremetski ein, hängt das Gemeindewachstum wieder verstärkt vom biologischen Faktor ab. Tschita verfügt auch über adventistische, pfingstlerische und eine lutherische Gemeinde.

 

Im Jahre 1989 war der aufstrebenden Gemeinde ein Clou gelungen: Die Kommune stellte ihr das Gelände einer ehemaligen militärischen Erziehungsanstalt in der Uliza Selenginskaja 7 im Osten der Stadt zur Verfügung. Das Backsteingebäude war wenige Jahre zuvor abgebrannt; es blieb wenig mehr als die Grundmauern zurück. Dank gewaltiger Anstrengungen von Gläubigen aus nah und fern konnte ein praktisch neues Gebäude mit Platz für 300 Menschen errichtet werden. Mit Gottesdiensten am Ort wurde 1991 begonnen; 2018 wurde die Gemeinde sogar Eigentümerin des Grundstücks auf dem der beeindruckende Neubau steht.

 

Heutiger Zustand

Bis heute nimmt die Gemeinde Tschita Anteil am Sportprogramm der Stadt; seit 2013 führt sie jährlich stattfindende Volleyballturniere durch. Es nehmen rund 40 Mannschaften am Turnier teil; mitunter ist sogar der Bürgermeister dabei.

 

Doch laut Stremetski  ist manches bereits eingebrochen. Obwohl man nicht direkt mit der restriktiven Jarowaja-Gesetzgebung von 2016 in Konflikt geraten ist, sind offizielle Schul-, Krankenhaus- und Gefängnisbesuche nicht mehr gestattet. Noch ist die Betreuung von 65 Familien mit einem behinderten Kind möglich, doch „geschieht unsere diakonische Arbeit meistens nur noch inoffiziell. Vieles hängt von den persönlichen Beziehungen ab.“

 

Die Beziehungen zur orthodoxen Staatskirche verschlechtern sich: „Es gibt nur noch einige gute persönliche Beziehungen.“ Der leitende Pastor hält es sogar für denkbar, daß die Sommerlager für die eigenen Gemeindekinder gefährdet sind. Vieles hängt von der politischen Großwetterlage ab: „Manche halten uns noch immer für Amerikaner; das spielt für uns eine Rolle.“

 

„Die sogenannte ‚Evangelisationsexplosion’ brauchen wir nicht,“ versichert Pastor Alexei. „Es geht uns darum, erst einmal Vertrauen zu unseren Mitmenschen aufzubauen.“

 

Nun hat die offizielle „Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB) drei Gemeinden in der Stadt Tschita: Antiochia hat 170 Mitglieder; die anderen beiden Gemeinden jeweils 40. Das ist keine schlechte Entwicklung angesichts der 13 Baptisten beim Eintreffen von Ruwim Woloschin im Jahre 1987. Woloschin wechselte 1996 in die baptistische Missionszentrale nach Moskau; nun ist er seit 2014 leitender Pastor der Gemeinde Grosny.

 

Die Atheisten Rußlands können auch auf Tschitaer Wurzeln hinweisen. Jemeljan Jaroslawski (1878-1943), ein Gründungsvater der 1929 entstandenen „Gesellschaft der militanten Gottlosen“, ist in der Stadt aufgewachsen. Er liegt an der Kremlmauer begraben.

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, den 4. August 2021

 

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Zusätzliche Anmerkungen

Nur wenige Stunden vor dem Ableben seiner Frau, Raissa, verstarb Boris Bereschnoi, ein in der russischsprachigen Welt bekannter baptistischer Sänger und Prediger, am 25. Juni 2021 in Moskau. Bereschnoi war 1949 in Karaganda/Kasachstan geboren.

 

Die Moskauerin Diana Kondratiewa, die langjährige Direktorin der Frauenarbeit beim Russischen Baptistenbund, verstarb an Covid am 1. August 2021.

 

Nach mehrjährigen Verhandlungen hat das baptistische „Moskauer Theologische Seminar“ am 14. Juli 2021 seine Lizenzierung zurückerhalten. Es ist damit zu rechnen, daß im Herbst der reguläre Vorlesungsbetrieb wieder aufgenommen werden kann.