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Ein Außenposten des jüdischen Volkes in Russisch-Fernost

Photos: Synagoge, Koscher-Restaurant, Bahnhof, Boris Golub, Verfasser beim Musikunterricht

Aufnahmen von Yoder in Birobidschan, 15 Juli 2021.

 

Birobidschan wird niemals ohne Juden auskommen müssen

 

L a d u s c h k i n -- Schon auf dem Bahnhof Birobidschan fällt einem auf, daß es sich um einen Sonderfall handelt: An der Bahnhofswand prangt neben den üblichen kyrillischen Buchstaben der Stadtname auch in hebräischer Schrift! Beim ersten Kurzaufenthalt unseres Zuges an diesem fernöstlichen Ort 185 km westlich der Großstadt Chabarowsk hatte sich unser begleitender Freund aus Deutschland vor lauter Begeisterung sofort auf eine Knippstour begeben müssen. Sein Wiedereinstieg in den bereits fast abgefahrenen Zug fiel dann entsprechend knapp aus.

 

Bei einem zweiten, streßfreien Aufenthalt drei Jahre später im Juli 2021 sah ich, daß manche Straßen- und Geschäftsnamen ebenfalls zweisprachig angegeben werden. Auf der anderen, Straßenseite des Bahnhofs ist ein Brunnen mit der Menora, dem siebenarmigen Kerzenleuchter zu bewundern. In der Leninstraße hat die Stadt eine jüdische Meile mit einem Kulturzentrum, einem inoffiziellen israelischen Konsulat, Koscher-Restaurant, Museum und einer Synagoge. Es gibt ferner eine Zeitung und Rundfunkbeiträge in jiddischer Sprache.

 

Im Zuge der Stalinschen Nationalitätenpolitik war im Mai 1934 eine „Jüdische Autonome Oblast“ geschaffen worden. (Die Wolgadeutscherepublik hatte bereits zehn Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt.) Nach der ersten Verfolgungswelle hatte die Oblast noch 1939 einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 16% - heute liegt der Anteil bei 0,9% mit abnehmender Tendenz. Bei einer Stadtbevölkerung von rund 72.000 kommt man so auf eine Zahl von 648 Bürgern jüdischer Nationalität. Bei der chinesischen Minderheit sieht es hingegen anders aus: Sie beträgt bereits mehrere Prozentpunkte bei stark zunehmender Tendenz.

 

Bereits um 1924 hatte die Einwanderung von Juden in das Gebiet begonnen. Im Jahre 1928 war sogar ein Kibbuz namens „Ikor“ gegründet worden, der bis 1939 bestand. Dazu gibt es ein russischsprachiges Buch.

 

Der pensionierte Dozent und Touristenführer im jüdischen Museum, Boris Michailowitsch Golub, gab an, daß rund 10 Menschen den wöchentlichen Hauptgottesdienst aufsuchen. Doch an den Feiertagen können es Hunderte sein. Während meines Besuchs unter der Woche in der fast neuen Synagoge trug ein Herr die ledernen Gebietsriemen, die Tefellin.

 

Auf Zahlen wollte sich der stets zuvorkommende Boris Golub nicht festlegen. „Wer denn ist eigentlich Jude, und wer nicht?“ wollte er wissen. „Schließlich haben viele Tausende Juden erst nach dem Ende des Kommunismus ihre jüdischen Wurzeln entdeckt.“ Dabei erwähnte er einen Witz aus der Gegend, der besagt, daß es Juden sein werden, die auf dem Bahnhof den allerletzten, abreisenden Juden verabschieden werden.

 

Der Dozent versicherte, ein Unikum des Judentums bestehe darin, daß es keine fertigen Antworten zu bieten habe. Damit entpuppte sich Herr Golub als kein Jude orthodoxen Glaubens.

 

Jedenfalls bis Corona waren die Beziehungen nach Israel relativ eng. Der kulturelle Austausch florierte. Schwere medizinische Fälle wurden in Israel behandelt; der Dozent selbst hat bereits fünfmal das gelobte Land besucht. Er insistierte, seine Oblast sei das einzige territoriale Gebiet außerhalb Israels, das über eine jüdische Staatlichkeit verfügt.

 

Kommentar

Trotz seines Sonderstatus blieb das Gebiet nicht gegen Stalinsche Verfolgungen gefeit. Mein Gastgeber sprach von zwei Repressionswellen: 1937 sowie die sogenannte Verschwörung jüdischer Ärzte von 1951. Doch heute kommt es der Gegend zugute, daß der Kreml eine durchaus raffinierte Außenpolitik gegenüber Israel fährt. Obwohl in der Westbank und in Syrien Israel und Rußland auf die Gegenseite der Barrikaden stehen, gelingt es den beiden Staaten, eine durchaus erträgliche Politik gegenüber einander zu führen. Boris Golub wußte es zu würdigen, daß Wladimir Putin im Januar 2020 der Eröffnung eines Denkmals zur Ehren der Opfer der Leningrader Blockade in Jerusalem beiwohnte.

 

Fazit: Trotz seiner außenpolitischen Tragweite könnte diese offiziell jüdische Region einen Deutschen an das Gebiet der Sorben in der Lausitz erinnern. Es dreht sich eben ohne Ironie um einen Touristenfänger der besten Sorte. Die zur Schau getragene Multikulturalität ist recht fotogen, doch inhaltlich bestehen vor Ort nur geringe jüdische Kultur- und Sprachkenntnisse. Doch zur Glättung des globalen Verhältnisses zwischen Juden und Russen trägt das Gebiet sicherlich bei.

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, den 5. August 2021

 

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