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Nachdenken über die polnischen Grenzen in West und Ost

Gottfried Hain in der polnischen Stadt Gubin am 4. Oktober 2021. Photo stammt von W. Yoder.

 

Guben und Gubin werden zu einer Stadt

 

Kommentar

 

L a d u s c h k i n -- Ein Besuch der Ost- und Westgrenzen Polens ist eine Studie der Kontraste. Oder genauer: Es geht um den Kontrast zwischen den polnischen Übergangen nach Deutschland und jenen nach Rußland. In der deutsch-polnischen Doppelstadt Guben/Gubin an der Lausitzer Neiße ist im Oktober 2021 überhaupt keine Grenze mehr zu erkennen. Deutsche gehen unkontrolliert in Gubin essen oder einkaufen; es gibt gemeinsame Kindergärten und nicht wenige Polen gehen in Deutschland arbeiten. Die beiden Bürgermeister der Doppelstadt vertreten sich gelegentlich gegenseitig, insbesondere bei Repräsentationsaufgaben.

 

Als diese Grenze wegen Corona im März 2020 plötzlich geschlossen wurde, waren protestierende Polen binnen weniger Wochen schon dabei, am provisorischen Zaun zu rütteln und Einlaß zu fordern. „Das war eine Situation wie beim Bau der Berliner Mauer,“ versichert der baptistische Laienprediger und Gemeindeleiter Gottfried Hain. „Es war nicht menschlich, daß die Koronasperre ohne Rückfrage und Vorwarnung verhängt wurde. Das war eine unmögliche Situation, die vorher von den Verantwortlichen überhaupt nicht reflektiert wurde. Der Protest war völlig berechtigt.“ Hain erzählt, daß ein damaliger Kollege, ein polnischer Arzt, sich damit begnügen mußte, seiner Ehefrau über den Zaun hinweg entgegenzuwinken. Nach Hain ging es bei diesem Protest nicht vordergründig um Moral – die Stadtteile sind eben existentiell zutiefst aufeinander angewiesen und die Arbeitskraft wird auf beiden Seiten gebraucht.

 

Dagegen herrscht Totenstille an der Grenze zwischen Braniewo/Polen und Mamonowo/Rußland in der Enklave Kaliningrad; dort wurde an keinem Zaun gerüttelt. Der einst rege Privathandel zwischen Polen und Russen fiel 2016 mit der Aussetzung des Kleingrenzverkehrs plötzlich weg. Wegen Corona wurde dann im März 2020 der belebte Übergang „Mamonowo 1“ mutmaßlich für immer geschlossen. Der fast neue, noch aktive Übergang „Mamonowo 2“ liegt 10 km weiter östlich. Doch schert die allermeisten Bürger dieser Umweg nicht, denn bis dato ist ein privater oder touristischer Austausch nur auf dem Luftweg über Moskau oder St. Petersburg möglich.

 

Über diesen Kontrast würde sich jeder logisch denkende Außerirdische wundern, denn Polen wie Russen sind Slawen. Mit etwas Mühe können sich die beiden in der jeweils eigenen Sprache verständigen – etwa wie in einem Gespräch zwischen Deutschen und Holländern. Die deutsch-polnische Grenze ist hingegen eine nahezu brutale Sprachbarriere. Es kommt hinzu, daß die ideologischen Ansichten der konservativen in Warschau regierenden PiS-Partei (Partei „Recht und Gerechtigkeit“) dem russischen Weltbild viel näher stehen als die liberalen, inzwischen auf Gender pochenden Auffassungen des Westens.

 

An der einen Grenze schürt Warschau Angst, an der anderen sprudelt der Staat Wärme. Hain merkt an: „Man kann hervorragend Ängste produzieren, wenn der Nachbar etwas ärmer ist - daß dieser Ärmere mir etwas von meinem Reichtum nehmen könnte. Das ist das, was gerade an der Grenze nach Rußland passiert.“ Im August 2019 fragte der Verfasser in der Baptistengemeinde Elblag (Elbing) nach Personen, die bereits in Rußland gewesen seien. Von den rund 50 Versammelten erhoben drei die Hand. Man warnte vor der Kriminalität und sonstigen Gefahren in Rußland – ähnlich so wie Deutsche traditionsgemäß über Polen reden. Elblag liegt 50 km südlich der Grenze nach Rußland.

 

Mein Kommentar: Der feine Unterschied zwischen den Zuständen an beiden Grenzen besteht u.a, darin, daß es sich bei den Polen und Russen um West- bzw. Ostslawen handelt. Seit 1990 wird immer wieder deutlich, daß „westlich“ vor „slawisch“ geht - siehe z.B. die außenpolitischen und kulturellen Präferenzen der westslawischen Kroaten, Slowenen und Tschechen.

 

Doch Gottfried Hain, der selbst von 1994 bis 2002 Bürgermeister von Guben war, will das ideologische Gefälle nicht überbewerten. Er hat für all das eine wirtschaftliche Erklärung: „Polen und Deutsche haben ein gemeinsames Interesse am materiellen Wohlbefinden.“ Nur gegenüber Deutschland hegt man materielle Erwartungen. Deshalb auch „ist der Anreiz für Polen, Deutsch zu lernen, einfach größer als umgekehrt“.

 

Hain fügt hinzu, daß Deutsche, die sich nach der Wende um die Verständigung mit Polen bemüht hatten, wegen der fehlenden Dankbarkeit u.a. enttäuscht sind. „Ich selbst bin aber gar nicht so enttäuscht, weil ich weiß, daß es diese Enttäuschung auch bei den Westdeutschen gab. Nach 1990 bekamen sie das Gefühl, den Ostdeutschen gehe es eigentlich nur um die D-Mark. Ostdeutsche dachten nur mit Bauch und Portemonnaie, nicht jedoch mit Herz. Die Prozesse der Verständigung dauern dann tatsächlich etwas länger.“

 

Der ehemalige Bürgermeister ortet die Attraktivität der PiS-Partei im Wirtschaftlichen – von ihr erwarteten die Wähler materielles Wohlergehen. „Ich vertraue auf die Freiheitsliebe der Polen,“ fügt er hinzu. „Im Grenzraum sind die Menschen Pragmatiker. Ihnen ist nicht wichtig,  welcher Partei der Bürgermeister angehört.“ Offensichtlich liegen PiS und die Wähler nicht auf der gleichen ideologischen Wellenlänge: Kürzlich durchgeführte Umfragen zeigen, daß 90% der polnischen Bevölkerung für einen Verbleib bei der Europäischen Union eintreten.

 

Ist somit der Prozeß der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen abgeschlossen? Falls ja, dann ist etwa das Begegnungszentrum in der Stettiner (Szczecin) Baptistengemeinde noch vor dessen Vollendung passé. „Keineswegs“, hält Hain dagegen. „Eine Wand ist noch da, und das merkt man, wenn eine Sache mal nicht gut läuft.  Es gibt auch diese Klischees und das merkt man, wenn der polnische Kollege z.B. zu spät zur Arbeit kommt.“ Doch an dieser Stelle ist dieser Laienprediger gegen Moralpredigten: „Das muß man mit Humor nehmen; die Mentalitäten sind ein bißchen anders.“ Noch ist der deutsche Überfall von 1939 nicht völlig verdaut. Hain zitiert dabei eine Stelle, die im Alten Testament mehrmals vorkommt: ein Gott, „der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied“ (2. Mose 20,5).

 

Nach den Erfahrungen von Gottfried Hain ist es meistens das Engagement Einzelner, das das Gespräch zwischen Deutschen und Polen voranbringe. Etwa durch den kulturellen Austausch könnte man immer wieder Menschen aus der bequemen, eigenen „Komfortzone“ hervorlocken.

 

Privates

Gottfried Hain wurde im November 1956 bei Zabrze (Hindenburg) im polnischen Oberschlesien geboren. Doch schon im reifen Alter von drei Monaten siedelte er gemeinsam mit seinen Eltern nach Luckau in der Niederlausitz um. Einen Gubener Wohnsitz erhielt er erstmals 1973 als er eine Lehre im Chemiefaserkombinat Guben antrat. Im zweiten Beruf wurde er Krankenpfleger, studierten dann zwei Semester Theologie und ging, nachdem er aus dem Studium heraus seinen Wehrersatzdienst leisten mußte, wieder zurück in seinen Pflegeberuf. Nach seiner Abwahl als Bürgermeister Ende 2001 erhielt er eine Stelle im alt-lutherischen „Naëmi-Wilke-Stift“ in Guben und wurde bald zum Verwaltungsleiter des Krankenhauses ernannt. In dieser Eigenschaft ging er Ende 2020 in Rente. Er und seine Frau Juliane sind die Eltern von 11 Kindern – vier von ihnen galten als Pflegekinder.

 

Als Bürgermeister der Stadt Guben hat Hain für das Zusammenwachsen der Menschen in beiden Stadthälften nicht wenig geleistet. Seine Abwahl hatte nach seiner Auffassung damit zu tun, daß die Wähler vom Kandidaten der FDP mehr Arbeitsstellen in einem konjunkturschwachen Gebiet versprachen. Überhaupt versteht Gottfried Hain viel von einem grenzüberschreitenden Wirken. Als Baptist war er Verwaltungsleiter in einem alt-lutherischen (SELK)-Krankenhaus; als Pensionär fungiert er nun mitunter als Katechet in der Unierten Kirche von Berlin-Brandenburg.

 

Der Beginn seines Engagements für eine Verständigung mit Polen führt Gottfried Hain auf den eigenen Großvater zurück. Um 1976 herum hatte er gemeinsam mit dem Großvater an dem Haus in Zielona Góra (Grünberg) geklingelt, das der Opa zu deutschen Zeiten mit den eigenen Händen erbaut hatte. Nach einer Kaffeerunde mit der Gastgeberin betete der Opa laut für das Wohlergehen der Menschen, die nun in diesem Haus lebten. „Er hat Gottes Segen erbeten für die, die dort wohnten. Da muß ich man nicht mehr über Aussöhnung sprechen, wenn sie schon stattgefunden hat.“

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 18. Oktober 2021

 

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