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Protestanten im Rußland-Ukraine-Konflikt

Die erste Reaktion war Entsetzen

 

Kommentar

 

L a d u s c h k i n – Entsetzen war die vorherrschende Reaktion der russischen Protestanten auf die Invasion in der Ukraine am 24. Februar. "Ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas noch erleben würde!" sagten Tausende. Jetzt, da sich der Staub gelegt hat und die Entscheidung des Kremls unumkehrbar scheint, ist sich die Bevölkerung größtenteils einig, daß die Menschen in Rußland "zusammenstehen und die Sache durchziehen" müssen. Dies könnte durchaus eine Erklärung für den jüngsten Popularitätsschub von Wladimir Putin sein, dessen Zustimmungswerte bei rund 85 % liegen. Von Heuchelei wird häufig geredet. Böse Zungen behaupten, der gegen Rußland gerichtete Zorn sei dadurch ausgelöst worden, daß Rußland das amerikanische Monopol auf ausländische Invasionen zerschlagen habe.

 

Schrumpfung ist an der Tagesordnung. Ein Leiter der russischen Zentrale des Baptistenbundes in Moskau kicherte laut, als er mich mit einem anderen US-Amerikaner auf Englisch reden hörte. Zwei Amerikaner auf einmal zu erblicken, ist in Rußland eine Seltenheit geworden. Der alle vier Jahre stattfindende Kongreß des Baptistenbundes ist für den 19. und 20. Mai in Moskau geplant. "Wir haben sehr viele Einladungen verschickt und hoffen, daß uns zumindest einige Amerikaner besuchen werden," erklärte eine der Sekretärinnen der Union.

 

Offenbar gehören Unterhaltungsstars, Intelligenzler, Computerprogrammierer und Protestanten zu den Gruppen, die am meisten an einer Auswanderung interessiert sind. Die plötzliche Flucht des Moskauer Erzbischofs Dietrich Brauer nach Deutschland Mitte März hat in lutherischen Kreisen Schockwellen ausgelöst. Einem Bericht zufolge warten 30.000 Russen und 10.000 Ukrainer in Mexiko auf die Einreise in die USA. Die „horizontale Entrückung“, die der Ausbruch von Feindseligkeiten mit sich brachte, beförderte rund 300.000 Bürger über die Grenzen Rußlands hinaus.    

 

Das westliche Embargo auf den Transfer von Geldern nach Rußland hat nicht nur Computerprogrammierer ernüchtert. Das riesige "International Mission Board" der Südbaptisten zog seine letzten Missionare aus Rußland ab, sobald dieses Embargo in Kraft trat. Missionen und Denominationen, die nicht in der Lage sind, sich außer Landes zu begeben, arbeiten nun an neuen Finanzierungskanälen, die über Drittländer wie Ungarn, Serbien oder Kasachstan geleitet werden.

 

Die aktuelle Lage

Ein Insider berichtet von einer Dreiteilung baptistischer Kreise: unpolitische, pro-westliche (er nannte sie "kolonialistisch") und nationalistische Gruppierungen. In einer Erklärung der "Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten" (RUECB) vom 8. April wurde versichert, daß "wir keine politische Bewertung der an dem Konflikt Beteiligten vornehmen. Wir rufen alle zu Frieden und Menschlichkeit auf." Dies spiegelt die traditionelle Distanz der Baptisten gegenüber der Politik wider. Sergei Rjachowski, leitender Bischof der "Assoziierten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens" (ROSChWE), hat dagegen mit Äußerungen, die als eine übermäßige Unterstützung der Kriegsanstrengungen angesehen werden, eine Kontroverse vor allem in der Ukraine und im Westen ausgelöst.

 

Ein führender baptistischer Theologe in Moskau fragt, ob unser Glaube heute der schwierigen Aufgabe gewachsen ist, die vor uns liegt. "Der Krieg lag völlig außerhalb unserer Vorstellungswelt,“ sagt er: "Jetzt wirkt es so, als ob Gott taub wäre; er achtet nicht auf unsere Gebete. Wir wissen nicht mehr, wie wir beten sollten. Wir Russen werden vom Westen plötzlich als Geächtete betrachtet und wir wissen nicht, wie wir reagieren sollten. Wir können logische Gründe finden, um den derzeitigen Krieg zu rechtfertigen, aber wie können wir das mit den Geboten Jesu vereinbaren?" Die Entfremdung zwischen russischen und ukrainischen Protestanten scheint tiefgreifend und dauerhaft zu sein. Äußerungen von Christen in der Ukraine und in Rußland in den sozialen Netzwerken verstoßen gegen die Gebote des christlichen Glaubens.

 

Witali Wlasenko, Generalsekretär der "Russischen Evangelischen Allianz", kommt zu dem Schluß, daß wir nichts Geringeres als einen neuen Mose brauchen, der seinem Volk den Weg ins Freie weist. "Wir müssen von der Kraft der christlichen Botschaft überzeugt bleiben", fügt Wlasenko hinzu. "Sonst sind wir verloren."

 

Es überrascht nicht, daß die derzeitige Krise die Konfessionen in Rußland einander gleichzeitig näher bringt. Im April gaben sowohl ROSChWE als auch die RUECB Erklärungen heraus, die ein mögliches Verbot des Moskauer Patriarchats in der Ukraine verurteilten. Historisch gesehen ist das in Moskau ansässige orthodoxe Patriarchat die größte christliche Konfession der Ukraine.

 

Ein anderer Moskauer Pastor hat eine völlig andere Sicht der Dinge und blickt weit über die unmittelbare Frage des Krieges hinaus. Er behauptet sogar, daß er sich in Anbetracht des sich abspielenden globalen Wandels wohl fühlt. Der Nebel habe sich gelichtet, die Schafe und Böcke würden sich trennen. Der wahre Stand der Dinge würde sichtbar. Die Identität der wahren Freunde der Kirche - und deren Schönwetterfreunde – würde deutlich. Nach 35 Jahren sei Rußland wieder bereit, aufzustehen und seine Interessen zu verteidigen. Die Bereitschaft zum Anpacken sei zurückgekehrt. Nur eine solche Entschlossenheit könne ein Land wieder stark machen.

 

Wer ist wirklich ein russischer Patriot, und wer begnügt sich damit, das fremde Anhängsel und der verlängerte Arm westlicher Sponsoren zu sein? "Unsere kirchlichen Organisationen müssen sich in Rußland finanzieren - hier gibt es auch Gelder", fordert der evangelische Pastor. Er kommt zu dem Schluß, daß man im säkularen Bereich nicht mehr gleichzeitig auf zwei Stühlen sitzen dürfe, indem man seine Gewinne in Rußland einsammele und sie anderswo ausgebe.

 

Ein befreundeter Theologe in Kiew hat diesen Moskauer Pastor dreimal aufgefordert, sich öffentlich von den russischen Aktionen in der Ukraine zu distanzieren. Doch der Pastor findet diese Sichtweise oberflächlich und verlangt stattdessen, daß man den viel größeren, globalen Kontext berücksichtigt.

 

Die Gefahr der Überzeichnung

Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß nur in der Ukraine eine Vollmobilisierung stattgefunden hat. Tatsächlich war der Aufruf zu den Waffen für alle arbeitsfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren ein Hauptgrund für die Auswanderung in den ersten Kriegstagen. Glücklicherweise sind nicht alle Flüchtlinge traumatisiert und in Lumpen. An den Stränden des türkischen Badeortes Antalya stoßen ukrainische Flüchtlinge und russische Urlauber (eher unfreiwillig) aufeinander. Mir persönlich sind mehrere Fälle bekannt, in denen ukrainische Staatsbürger, die seit langem in Rußland leben, die derzeitig einmalige Gelegenheit zur Übersiedlung in den Westen genutzt haben.

 

Der Moskauer Pfarrer Leonid Kartawenko berichtet, daß Antalya mindestens 800 Flüchtlinge aus der Ukraine beherberge. Mit Hilfe des ukrainischen Konsulats fand die Hälfte davon den Weg zu einem evangelischen Ostergottesdienst. Ein anderer Moskauer berichtet, daß trotz aller Abwanderung die Zahl der Gottesdienstbesucher steige. Die Menschen auf der Straße seien offen für Gespräche über Glaubensfragen, ganz so, als ob es wieder 1990 wäre.

 

Im Gegensatz zu Rußland ist die Ukraine ein Kriegsgebiet und die individuelle Freiheit ist dort stärker eingeschränkt. Die Russen äußern weiterhin Meinungen gegen den Konflikt in den sozialen Medien, einschließlich Youtube. Witali Wlasenko sorgte für Aufsehen, als er sich am 14. März im Namen der Russischen Allianz bei den Ukrainern für das Leid entschuldigte, das ihnen angetan worden ist. Bischof Brauer erklärte in Deutschland, daß er aus Rußland geflohen sei, um möglichen künftigen, nicht aktuellen, Repressionen zu entgehen (siehe Wikipedia).

 

Wer sich auf die westlichen Leitmedien beschränkt, könnte meinen, daß der derzeitige Ukraine-Konflikt als totaler Krieg zu bezeichnen sei. Doch tragischerweise findet man auf allen Seiten weinende Mütter, tote Zivilisten und beschädigte Gebäude. Der Westen zieht es vor, den allgemeinen, größeren Zusammenhang auszublenden. Beobachter wie der US-amerikanische Veteran Scott Ritter stellen fest, daß die russische Armee ihren Einsatz mit großer Vorsicht begann in der Hoffnung, mit Brot und Salz begrüßt zu werden. Bis vor kurzem waren die Eisenbahnlinien und kommunalen Dienste noch intakt. Kiew wird fast täglich von westlichen Politikern besucht. Die Telefon- (und Gas)leitungen zwischen der Ukraine und Rußland funktionieren. Doch der Krieg zieht sich hin, die Infrastruktur wird nun angegriffen und die Lage wird sich zweifellos verschlechtern.

 

Eine Anmerkung zum Begriff "Krieg": Nach russischer Lesart begann der aktuelle Krieg im Februar 2014 mit dem Putsch in Kiew; fast 14.000 Tote im Laufe von acht Jahren folgten. Die aktuelle "Spezialoperation" soll demnach nur einen Krieg beenden, und keinen beginnen. So hieß es jedenfalls im Februar 2022.

 

Die einzige Lösung

Die hysterischen, nackten Emotionen, die in Westeuropa offensichtlich sind, zerstören Logik und Vernunft. Die Schaffung von Frieden erfordert kühlere Köpfe. Die Beschreibung des Konflikts in Schwarz und Weiß ist massiv kontraproduktiv. In der Hauptsache gibt es schließlich keinen Grund für Zauderei: Verhandlung und Kompromiß sind der einzige Weg zum baldigen Frieden! Die Fortsetzung von Waffenlieferungen oder die Forderung nach einer Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist auf das Schärfste zu verurteilen. Das Gebiet der Ukraine und seine Menschen dürfen nicht zerstört werden. Wie die deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht am 5. Mai erklärte, würde eine russische Niederlage einen westlichen Sieg in einem Atomkonflikt voraussetzen. Den Kriegstreibern sollte eine solche Gelegenheit nicht geboten werden.

 

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Die Russische Allianz

Am 31. März kündigte die 2003 gegründete "Russische Evangelische Allianz" eine umfassende Umstrukturierung an. Ihr neuer Präsident ist Sergei Lawrinow aus Tjumen in Westsibirien. Lawrinow (geb. 1964) ist Bischof in der pfingstlichen, oben erwähnten ROSChWE. Er löst den langjährigen Präsidenten Alexander Feditschkin, einen Baptistenpastor aus Moskau, ab. Feditschkin (geb. 1951), der nur das erste Jahr seiner letzten sechsjährigen Amtszeit absolvieren konnte, bleibt einer der vier Vizepräsidenten der REA. Eine neue Satzung und Geschäftsordnung sind geplant.

 

Generalsekretär Witali Wlasenko hat ein Team von dynamischen, jüngeren Führungskräften zusammengestellt, das Pläne hat. Seine größte Herausforderung wird darin bestehen, dafür zu sorgen, daß die etablierten evangelikalen Denominationen aktiv bleiben und das Schiff nicht verlassen.

 

Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 10. Mai 2022


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