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Baptisten feiern die belarussische Nation

1. Siarhej Brishtel mit dem Denkmal zur "Brester Bibel" vor der Stadtbibliothek

2. Werbung für ein großes Konzert der "Spasenie" in Brest am 3. August 2019

3. Wassili Kreiditsch im Gewächshaus des Reha-Zentrums in Welikorita

4. Ein Teil des Reha-Zentrums in Welikorita

 

Über einen Besuch in Brest im Juni 2022

 

L a d u s c h k i n -- Die Protestanten von Brest feiern das belarussische Erbe ihrer Stadt. Ausländischen Besuchern wird umgehend das attraktive Bibeldenkmal gezeigt, das 2017 vor der Stadtbibliothek aufgestellt wurde. Es wurde von den protestantischen Gemeinden und der Stadt gemeinsam finanziert. Auf dem Denkmal prangt die Jahreszahl 1563, das Jahr, in dem die "Brester Bibel" veröffentlicht wurde. Es handelte sich um die weltweit erste protestantische Übersetzung der Bibel ins Polnische, die zu der Zeit entstand, als Brest zum Großfürstentum Litauen gehörte. Verantwortlich für dieses Unterfangen war Mikolaj Radziwill der Schwarze (1515-1565), ein führender polnisch-litauischer Adliger und Kalvinist. Doch die polnische Gegenreformation war Ende des 16. Jahrhunderts in vollem Gange, und die Blütezeit der polnischen Reformation war nach kaum mehr als einer Generation zuende.

 

Die erste Übersetzung eines Teils der Bibel ins Altweißrussische war bereits 1517 in Prag veröffentlicht worden. Der Übersetzer war Francysk Skaryna (Transkriptionen variieren), ein Katholik mit orthodoxen Beziehungen. Pastor Siarhej Brishtel, ein Baptist, der sich für das protestantische Erbe von Brest einsetzt, weist darauf hin, daß Skarynas Werk einige Monate vor dem Anschlag der 95 Thesen Martin Luthers an die Kirchentür im Oktober 1517 erschien.

 

Die belarussischen Kirchen haben 2017 ein Jahr der Bibel ausgerufen; zahlreiche Veranstaltungen in diesem Zusammenhang wurden von den Staatsmedien übertragen. Eine Bibelausstellung (ohne offizielle katholische oder orthodoxe Beteiligung) erfolgte Ende 2021 in Brest. Baptisten waren an der Gestaltung des neuen Logos der Stadt beteiligt; der Text eines dieser Logos lautet: "Brest - Stadt der Bibel".

 

Brishtel betont, daß die Bibel ein Element ist, das alle Christen vereint, und praktisch alle protestantischen Konfessionen in Brest - mit Ausnahme von zwei nicht registrierten Baptistengemeinden - haben an den jüngsten Bibelausstellungen teilgenommen. Brest ist insofern einzigartig, als die 19 verschiedenen protestantischen Gemeinden hervorragende Beziehungen zueinander unterhalten. Der Besuch des Evangelisten Nick Vujicic in Brest im September 2017 - er wurde ohne Gliedmaßen geboren - bleibt unvergessen: 3.500 Menschen besuchten die Veranstaltungen, die von fast allen protestantischen Konfessionen unterstützt wurden. Brishtel betont, daß die Protestanten eine Brücke sein wollen, und die Feier der Brester Geschichte und Tradition hat tatsächlich als Brücke zur Kommune gedient. Da die belarussische Identität weder eindeutig katholisch noch orthodox ist, bietet sie den Protestanten die Möglichkeit, ein seltenes Vakuum in der slawischen Welt zu füllen.

 

Mein Kommentar: Es gibt jedoch einen Nachteil: Der Einsatz für das "Belarussentum" ortet die Bewohner von Westbelarus - das Gebiet war zwischen den beiden Weltkriegen Teil des polnischen Staates - irgendwo im Raum zwischen der westlichen und der ostslawischen Welt. Protestantische, belarussische Patrioten neigen dazu, den Katholizismus als polnisch und die Orthodoxie als russisch zu betrachten; ihre Beziehungen zu diesen beiden Zweigen des christlichen Glaubens sind dementsprechend kühl. Belarussische Patrioten lehnen einen zweiten Vorstoß zur "Verbrüderung" ab: "Rus", die besondere Beziehung zwischen den belarussischen, ukrainischen und russischen Nationen, die vom Moskauer Patriarchat gefördert wird. Natürlich vergrößert die Annäherung an bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen in der Regel die Distanz zu anderen.

 

Die protestantische Szene in Brest

Die Region Brest hat sich zu einer Art Bibelgürtel entwickelt, und "Spasenie" (Erlösung), eine der 11 Baptistengemeinden der Stadt, hat zu diesem Aufschwung beigetragen. Die Kirche hat 500 Mitglieder; ihr Hauptsaal in der Ulitsa Skripinkova 45a sieht aus wie eine Turnhalle und dient dementsprechend als Basketballspielplatz. "Spasenie" traf sich anfangs in einem Armeezelt und hatte praktisch keine Mitglieder; erst 1996 wurde sie offiziell registriert. Die Gemeinde gründete eine bekannte Musikgruppe mit demselben Namen; ihr leitender Pastor, Alexander Borisiuk, ist nach wie vor einer ihrer wichtigsten Liedermacher. Hören Sie es sich auf Belarussisch an: "www.youtube.com/watch?v=KGimf1bM0-I".

 

Da nur sehr wenige Mitglieder einen protestantischen Hintergrund haben, können junge Baptistinnen in dieser Gemeinde auf Heavy Metal und zerrissene Jeans stehen, ohne daß sie Pfingstler werden müssen, wie es in Russland häufig der Fall ist. Im Jahr 2013 nahmen christliche Hardrock-Bands aus dem Westen an einem staatlich organisierten, stadtweiten Musikfestival teil. Ihr Trockeneisnebel, ihr Sound und ihre verrückten Frisuren sorgten für einen Anblick, der unter den Protestanten Osteuropas nicht gerade üblich ist.

 

Die Beziehungen zu den städtischen Behörden sind korrekt. "Spasenie" übernimmt mehr als nur ein paar soziale Aufgaben, darunter Drogenrehabilitation, Schwangerenberatung, Kindererziehung und Sport.

 

Bei den Pfingstlern, die sich weniger um Brest und seine einzigartige Geschichte kümmern, ist die Situation ein wenig anders. Die eintausend Mitglieder zählende "Kirche der Christen evangelischen Glaubens" begann ihre Existenz ebenfalls in Zelten - im Jahr 1968. Ihr massives Gotteshaus in der Ulitsa Tsentralnaya 1 liegt am östlichen Stadtrand. Der energische Seniorpastor, Wassili Kreiditsch, ist mehr als nur ein bißchen aufgeschlossen. Kürzlich fand eine Veranstaltung statt, an der 500 Kinder teilnahmen. Es werden neue Gebäude gebaut, um ein Bildungsprogramm für sie einzurichten.

 

Das helle Reha-Zentrum in Welikorita, 25 km südöstlich der Stadt, beherbergt derzeit 17 männliche und drei weibliche Bewohner. Die Pfingstler verfügen über ein Netz von 20 Zentren, die über das ganze Land verteilt sind. Das derzeitige Programm umfaßt zunächst vier Monate in Welikorita, dann acht weitere in Baranowitschi auf dem Weg nach Minsk und schließlich vier Monate in Welikorita. Ein Drittel der Teilnehmer wird lebenslang von Drogenmißbrauch befreit.

 

Die Mitarbeiter in Welikorita bestätigten, daß der Drogenmißbrauch in Belarus weiter zunimmt; die meisten Zentren sehen sich mit langen Schlangen von Bewerbern konfrontiert. Ein Mitarbeiter merkte an, daß auch orthodoxe Klöster dazu neigen, Süchtige aufzunehmen. Diese stammen jedoch in der Regel aus den Kreisen der weniger schwerwiegenden Drogenabhängigen. Der Staat bietet kaum mehr als eine medizinische Versorgung an; die spirituellen und psychologischen Bedürfnisse dieser Personen werden nicht berücksichtigt.

 

Pastor Kreiditsch wies auf ein großes leerstehendes Schulgebäude ebenfalls östlich von Brest hin. Die erst vor einem Jahr geschlossene Schule verfügt über 15 große Räume sowie eine Küche und Turnhalle. Die Preisvorstellung liegt bei nur 25.000 belarussischen Rubeln: ca. 10.000 US-Dollar. Der Pastor würde das Gelände gerne für seine Kinder- und Erwachsenenprogramme nutzen und betet, daß ihm niemand den Kleinod wegschnappt. "Es ist die Geldfrage, die uns immer wieder zurückhält", klagt er.

 

Brest bleibt auch ein wichtiges Zentrum für die Arbeit des evangelikalen "Trans World Radio". Krasnojarsk in Sibirien bleibt das einzige größere russische Zentrum. TWR-Programme aus Brest und Krasnojarsk werden von Tartu in Estland und Grigoriopol in der prorussischen, abtrünnigen Separatistenrepublik Transnistrien aus gesendet. Auch der Internetzugang ist problemlos möglich.

 

Der größere Zusammenhang

Die langen Autoschlangen in unmittelbarer Nähe der Festung Brest, die stundenlang auf die Einreise nach Polen warten, verdeutlichen den zutiefst anti-ökologischen Charakter der Sanktionen, selbst wenn sie von grünen Parteien betrieben werden. Die Schlangen sind zum Teil darauf zurückzuführen, daß von Brest aus keine Passagierzüge in Richtung Westen verkehren. Ein Flug von Minsk nach Kaliningrad in Rußland gleicht einem riesigen Hufeisen, da die Flüge einen Umweg über St. Petersburg und die Ostsee machen müssen.

 

Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist für Belarussen geschlossen; wer mit dem Auto oder Bus von Belarus aus in die Ukraine reisen will, muß einen Umweg über Polen in Kauf nehmen. Diese Schließung ist für die Protestanten von Kobrin in Belarus und Rowno (Rivno) in der Ukraine besonders schmerzlich, da beide Parteien familiäre, kirchliche und geschäftliche Beziehungen zueinander halten.

 

Dennoch scheint das Leben in den belarussischen Grenzregionen nach über vier Monaten großer Kriegsaktivitäten bemerkenswert normal zu sein. Über 90 % der Autos, die an der polnischen Grenze bei Brest warteten, haben belarussische Kennzeichen; der Rest ist eine Mischung aus polnischen, ukrainischen und russischen Kennzeichen.

 

Belarussen mit polnischen Personalausweisen können weiterhin dorthin reisen, arbeiten und studieren, ohne ihren Status in Belarus zu gefährden. Personalausweise sind in der Regel für alle erhältlich, die in Brest oder anderen ehemals polnischen Regionen geboren wurden. Baptisten aus meinem Bekanntenkreis planen Sommerurlaube in Belgien, Portugal, Italien und Griechenland.

 

Westliche Besucher in Belarus sind selten, aber sie werden zahlreicher. Da der Flughafen von Minsk für Flüge aus dem Westen praktisch geschlossen ist, können Besucher auf dem Landweg über Brest einreisen. Eine junge Frau aus Minnesota z.B. arbeitet für ein paar Monate im baptistischen Kinderlager "Zhemtschuschinka" in der Nähe von Kobrin.

 

Nicht alle Sanktionen gegen Russland und Belarus sind gleich: Die goldenen Bögen (McDonalds) leuchten in Belarus weiterhin.

 

Auswanderung

Als ich unerwartet bei der bereits erwähnten "Kirche der Christen evangelischen Glaubens" auftauchte, war unser erstes Thema North Port im Bundesstaat Florida. Es ist eine Hochburg des slawischen evangelikalen Lebens, in der sich nicht wenige Brester Pfingstler niedergelassen haben. Ukrainer und Belarussen drängeln sich in Polen um Platz. Belarussen berichten, daß in Krakau 350 Personen eine Baptistengemeinde besuchen - in friedlicheren Zeiten waren es 60. Belarussen versammeln sich zum Gottesdienst in ihrer eigenen Sprache (meist Russisch) in Polen, z. B. in der großen Baptistengemeinde in Bialystok.

 

Bis zu 30 % der evangelischen Kirchenmitglieder sind in den Westen abgewandert; die Minsker Baptistengemeinde "Swet Istiny" (Licht der Wahrheit) hat fünf ihrer sechs Diakone verloren. Siarhej Brishtel drückte die Angelegenheit auf sehr diplomatische Weise aus: "Mehr Mitglieder als erwünscht befinden sich derzeit in Polen.“ Doch in schwierigen Zeiten tauchen immer wieder neue Gesichter in den Gottesdiensten auf.

 

Wer als ukrainischer Flüchtling in Belarus landet, zieht gerne nach Polen oder Deutschland weiter. Schließlich hat Belarus keinen Zugang zu den Hilfsgeldern aus den Geldsäckeln der EU. Taschkent in Usbekistan scheint ein Zentrum für belarussische IT-Arbeit geworden zu sein. Aufgrund von Informations- und Geldproblemen erwarten westliche Arbeitgeber, daß ihre Mitarbeiter in sanktionsfreie Länder wechseln.

 

Die belarussische Gesellschaft wurde in jüngster Zeit von zwei Auswanderungswellen unter jungen Menschen getroffen. Die erste erfolgte nach den Straßenprotesten im Jahr 2020, die zweite nach dem russischen Angriff in der Ostukraine im Februar dieses Jahres. Die zweite Welle entstand, weil junge Männer befürchteten, daß Belarus in den Ukraine-Konflikt hineingezogen werden könnte. Ein junges Minsker Baptistenpaar aus meinem Bekanntenkreis wartete drei Monate in Tiflis/Georgien. In der Zwischenzeit hat sich Präsident Alexander Lukaschenko jedoch klar gegen eine aktive Beteiligung an dem Konflikt ausgesprochen. Das Paar - und andere - sind daher nach Belarus zurückgekehrt.

 

Erstaunlich ist, daß trotz der großen Abwanderung von Fachkräften, in dem sauberen, derzeit grünen und schönen Belarus noch immer die Lichter brennen und die Züge fahren. Belarus ist offensichtlich keine DDR, denn seine Behörden haben wohlweislich nicht versucht, die Abwanderung der Jugend zu stoppen. Es bleibt ein Sicherheitsventil, um übermäßigen Druck abzubauen.

 

Doch selbst die Friedenszeit, von der wir alle träumen, bildet einen dunklen Schatten am Horizont. Belarussen berichten von ukrainischen Baptisten in Polen, die sehr unzufrieden mit moldawischen Flüchtlingen waren, die darauf bestanden, sich auf Russisch zu unterhalten. An seinem 58. Geburtstag am 31. März wurde der führende ukrainische Baptistenprediger und Politiker Oleksandr Turtschynow dabei gefilmt, wie er eine Torte mit einem Bild von Wladimir Putin durchstach. Der Weg zur Versöhnung wird in jedem Fall sowohl äußerst notwendig als auch steinig sein.

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, Kaliningrader Gebiet, 30. Juni 2022

 

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