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Fischkonserven im Wahllokal

Wahlbeobachtungen in Russland

 

L a d u s c h k i n -- Die Putinsche Popularitätswelle ist noch höher aufgestiegen als man dachte. Am 18. März, am Tag nach den Wahlen, gingen die Prognosen von 87% der Stimmen für Wladimir Putin aus. In London soll die Wählerschlange die Länge von einem Kilometer betragen haben, in Berlin war sie ein wenig kürzer. In Berlin fuhr eine Dame mit aufgedrehten Lautsprechern langsam an der riesigen Warteschlange vorbei. Dabei spielte sie den neuen, äußerst beliebten Hit von Tatiana Kurtukowa: „Mutter Erde, die weiße Birke. (Für mich ist das) das Heilige Russland, für andere, ein Dorn (im Auge).“

 

In Laduschkin, meiner Kleinstadt südlich von Kaliningrad, war die Stimmung auch festlich. Musik, Volkstrachten und stark verbilligte Fischkonserven – ein Überbleibsel der schlagenden Preise in Wahllokalen der Sowjetära - waren vorhanden. Gewiß – es handelte sich eher um ein Referendum als um eine Wahl.

 

Nach den russischen Medien gab es mindestens 30 versuchte Anschläge, bei denen u.a. Tinte in Wahlurnen gegossen wurde. Beim Eintritt in das Wahllokal in Laduschkin gab es jedoch nicht einmal eine Taschenkontrolle. Am Eingang zum Kaliningrader Busbahnhof geht man viel genauer vor.

 

Bei uns Protestanten in Russland ist die Stimmung jedoch überdurchschnittlich gedämpft. Man leidet an der Trennung vom ukrainischen Brudervolk, an den zerbrochenen Freundschaften und verwandtschaftliche Beziehungen. Man träumt von einer 

Aussöhnung mit den Ukrainern.

 

Diese Trauer erstreckt sich auch auf den Abschied der Ukrainer von der traditionellen, politischen Abstinenz des ostslawischen Protestantismus. Eine jüngste Stellungnahme des Ukrainischen Kirchenrats (UCCRO) vom 10. März ruft erneut zum Waffengang und zum militärischen Sieg auf. Da haben die Geschwister in Russland das Gefühl, auf einem anderen Planeten zu weilen. Kaum etwas dergleichen ist aus den protestantischen Kreisen Russlands zu hören.

 

Ein häufiges Gesprächsthema nach Gottesdienstschluss sind die hohen westlichen Hürden für Reisewillige. Wer ein westliches Visum begehrt, muß sich beispielsweise in einen zentralasiatischen Staat begeben. Kirchen- und Missionsvertreter aus Ost und West, die sich einst in Moskau trafen, versammeln sich heute in der Türkei. Ein Moskauer Evangeliumschrist, der eine Flüchtlingsgemeinde in Riga betreut, muß auf dem Hinweg über die Türkei und Westeuropa fliegen. Nur die Ausreise aus der EU bleibt für russische Staatsbürger relativ unproblematisch. Vor zwei Jahren in den Westen Geflohene machen wieder Stippvisiten in der alten Heimat. In Deutschland sind es vor allem die Russlanddeutschen, die die Reisewarnungen des eigenen, westlichen Außenministeriums in den Wind schlagen. Sie verstehen am ehesten, was in Russland zu erwarten – und nicht zu erwarten – ist.

 

Dr.phil. William Yoder

Laduschkin, Kaliningrader Gebiet, 1. April 2024, geändert am 25. April 2024

 

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Beitrag erbeten vom deutschen Nachrichendienst IDEA, wurde jedoch von ihm nicht veröffentlicht.